Er war stehen geblieben und hatte sich an einen Tisch in der Nähe gelehnt, die gewohnte Gruppe von Anhängern im Gefolge. Lilia bezweifelte, dass sie ihn tatsächlich mochten. Wahrscheinlicher war, dass sie sich mit ihm verbündeten, um nicht zu seiner Zielscheibe zu werden.
»Hast du in letzter Zeit irgendjemanden getötet?«, fragte er, die Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzogen.
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und tat so, als denke sie nach. »Nein, eigentlich nicht.«
»Was wirst du mit dir anfangen, jetzt, da Schwarzmagierin Sonea fortgeht?« Er stieß sich vom Tisch ab. »Du wirst in ihren Räumen ganz allein sein. Hast du schon eine neue feste Freundin? Oder willst du ausnahmsweise mal sehen, wie es mit einem Mann ist?« Er stolzierte zu ihrem Tisch und stieß seine Lende vor ihr Gesicht. »Wie wär’s, wenn ich dir zeige, was du versäumt hast?«
Sie wissen also, dass Sonea fortgeht. Lilia lehnte sich zurück und blickte zu ihm auf. Sie hatte darüber nachgedacht, dass irgendjemand versuchen könnte, die Situation auszunutzen, aber sie hatte nicht erwartet, dass jemand sie schon so bald auf die Probe stellen würde.
»Du hast dich doch sonst noch nie für mich interessiert.« Sie erhob sich langsam, ohne auf Abstand zu gehen, so dass sie sich schließlich eine Handbreit voneinander entfernt Auge in Auge gegenüberstanden. »Muss die schwarze Magie sein, die deine Meinung geändert hat. Du fühlst dich zu ihr hingezogen, nicht wahr? Der Kitzel der Gefahr. Man hat mir gesagt, dass ich auf Leute wie dich ein Auge haben soll.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie griff ihm ins Gesicht und grub die Finger in das Fleisch seines Kinns. Gleichzeitig traf sie ihn mit einem scharfen Stich Magie und zwang ihn, rückwärts zu taumeln, bevor er die Magie heraufbeschwören konnte, sich ihrem Angriff zu widersetzen. Sie folgte ihm und presste ihn gegen die Kante des nächsten Tisches.
»Weißt du, was bei dieser Versammlung geschehen wird? Schwarzmagierin Sonea nimmt Macht von jedem Magier der Gilde. Sie benutzt dafür schwarze Magie. Eines Tages – vermutlich eines baldigen Tages – werde ich das vielleicht mit dir machen. Du wirst keine Wahl haben. Befehl des Königs. Willst du mir wirklich einen Grund liefern, es so unangenehm wie möglich zu machen?«
Er starrte sie mit bleichem Gesicht an. Sie ließ ihn los und wischte sich die Hand an der Vorderseite seiner Robe ab. Die Novizen um sie herum waren still, und die Stille breitete sich aus. Sie ließ Bokkin nicht aus den Augen, aber sie konnte am Rand ihres Gesichtsfeldes sehen, das sich etliche Gesichter in ihre Richtung drehten.
»Du solltest besser hoffen, dass sie zurückkommt«, fuhr sie fort. Sie drehte sich um, griff nach ihrer Tasche und den Früchten und den gewürzten Brötchen, die sie für ihre Abendmahlzeit zusammengesucht hatte, und verließ die Halle.
Als sie in den Flur trat, verspürte sie eine Woge des Triumphs.
Das wird ihnen Stoff zum Reden geben. Und Anlass zu der Sorge, welchen Grund Soneas Reise nach Sachaka hat, aber sie werden sich diese Fragen ohnehin stellen. Ich werde niemandem Grund zu der Annahme geben, dass ihr Weggang mich verletzbar machen könnte.
Wenn ihre ganze Zukunft auf dem Gelände der Gilde lag, dazu auserkoren, dem Schutz der Vereinten Länder zu dienen und das Hauptziel jedes möglichen Angreifers zu bilden, dann wollte sie dafür mit Respekt behandelt werden.
Wenn ich keinen Respekt bekomme, werde ich mich bei Leuten wie Bokkin, die zu dumm sind, um sich bewusst zu machen, wer sein Leben für sie riskieren wird, damit begnügen, gefürchtet zu werden.
Von ihrem Platz in dem vorderen Teil der Gildehalle aus beobachtete Sonea die Versammlung von Magiern und bemühte sich, ihre Atmung langsam und gleichmäßig zu halten.
Was werden sie tun? Waren zwanzig Jahre genug, um sich an die Vorstellung von schwarzer Magie zu gewöhnen? Werden sie sich darauf einlassen? Werden sie meine Mission zur Befreiung meines Sohnes für eine hinreichende Rechtfertigung halten?
Es wäre einfacher gewesen, diese Fragen beiseitezuschieben, wenn die anderen Höheren Magier nicht zuvor die gleiche Sorge zum Ausdruck gebracht hätten. Niemand konnte den Ausgang der Versammlung voraussagen. Alle hatten gedacht, dass einige Magier sich weigern würden, ihre Magie zu geben, während andere dazu bereit sein würden, aber ihre Meinungen unterschieden sich gewaltig, was die wahrscheinliche Anzahl beider Gruppen betraf.
Auf beiden Seiten der langen Halle nahmen Magier ihre Plätze ein. Wie immer bildeten sich Flecken aus Grün, Rot und Purpur, wo Freunde der gleichen Disziplin zusammenkamen. Die vorherrschende Farbe war das Purpur der Alchemisten, aber die Zahl der Heiler war in den letzten Jahrzehnten gestiegen, und deshalb war jede Menge Grün in der Halle zu sehen. Obwohl es mehr Krieger gab denn je, waren rote Roben immer noch in der Minderheit. Dies machte ihr jedoch keine Sorgen. Während die meisten Magier ihre Energien in den Dienst von etwas Nützlicherem stellten, wusste sie, dass viele von ihnen in ihrer Freizeit weiterhin an ihren kämpferischen Fähigkeiten arbeiteten.
Im vorderen Teil der Halle warteten die Höheren Magier. Einzig Administrator Osen fehlte auf den erhöhten Plätzen. Wie immer würde er vor der Versammlung stehend sprechen, im Bereich vor den Höheren Magiern. Sonea betrachtete die Reihe von Sitzen über ihrem. Der Stuhl des Königs war leer, aber seine beiden Ratgeber waren zu der Versammlung erschienen – das war ungewöhnlich. Ratgeber Glarrin sah ihr in die Augen und nickte; Ratgeber Rolden, der vor zwanzig Jahren zugegen gewesen war, als sie und Akkarin verurteilt und in die Verbannung geschickt worden waren, schaute sie an und runzelte die Stirn.
Als Sonea nach unten blickte, bemerkte sie, dass die Höheren Magier in den Sitzreihen direkt unter ihr immer wieder nach oben schauten. Von seinem Platz unter den Studienleitern in der untersten der erhöhten Reihen sah Rothen Sonea in die Augen. Er wirkte grimmig, brachte aber ein beruhigendes Lächeln zustande.
Ihr Essen am Abend zuvor war überschattet gewesen von furchterregenden Möglichkeiten. Sie wusste, dass er sich fragte, ob dies das letzte Mal war, dass er sie sah. Es war eine weitere Furcht, zusätzlich zu der Sorge, dass er Lorkin niemals wiedersehen würde. Er hatte sich erboten, sie zu begleiten. Sie hatte ihn daran erinnert, dass er zu viel über ihren anderen Grund für die Reise nach Sachaka wisse. Er hatte genickt und dann gesagt, dass er sich mit der Tatsache trösten werde, dass sie sich einen verlässlichen Assistenten ausgesucht hatte.
Sie sah sich in der Halle um und suchte nach Lord Regin; er saß, wie sie erwartet hatte, im vorderen Teil der Halle. Er wirkte ernst und hochmütig. Dies mochte eine bewusste Maskierung seiner wahren Gefühle sein, aber es war schwer zu erkennen. Er wirkte immer ernst und hochmütig.
Ich hoffe, Rothen hat recht, was ihn betrifft. Nun, natürlich hat er recht. Regin nimmt seine Verantwortung gegenüber der Gilde, Kyralia und den Verbündeten Ländern viel zu ernst, um unsere Aufgabe zu gefährden.
Was bedeutete, dass er, wie unangenehm die Dinge zwischen ihnen auch werden mochten, ihren Befehlen gehorchen würde.
Die meisten Magier hatten jetzt ihre Plätze eingenommen. Administrator Osen trat vor, und ein Gong erscholl zum Zeichen, dass die Versammlung anfing.
Es wurde sofort still im Raum.
»Bei der Versammlung heute haben wir eine außergewöhnliche Situation zu erörtern und zu bewältigen«, begann Osen. »Was vor uns liegt, ist in der Geschichte der Gilde einzigartig.« Er hielt inne und sah sich im Raum um. »Wie ihr vielleicht wisst, ist Botschafter Dannyl vor einigen Monaten nach Sachaka gereist, um im Gildehaus von Arvice Dienst zu tun. Er hat den jungen Magier Lord Lorkin mitgenommen, der sich freiwillig als sein Assistent gemeldet hat.
Nicht lange nachdem sie sich in Arvice eingelebt hatten, kam es zu einem Anschlag auf Lord Lorkins Leben, vor dem ihn eine Sklavin gerettet hat. Die Sklavin war eine Spionin für die Leute, die als die Verräterinnen bekannt sind, Sachakaner, die seit Jahrhunderten abseits des Rests des Landes leben. Um weiteren Anschlägen auf sein Leben zu entgehen, half diese Sklavin Lorkin, zu dem geheimen Stützpunkt der Verräterinnen zu fliehen.