Je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Überzeugung, dass dies ihr Plan war. Warum sonst schlossen sie sie jede Nacht mit ihm in die Zelle ein? Wenn er fortfuhr, sie zu heilen, würde er schon bald all die Macht aufbrauchen, die Tyvara ihm gegeben hatte. Aber das konnte nicht ihr einziges Ziel sein. Es gab jede Menge andere Methoden, wie sie seine Stärke anzapfen konnten, falls es das war, was sie wollten. Wenn sie nur die Absicht hatten, seine Entschlossenheit zu brechen, indem sie andere folterten, warum ließen sie die Sklavin dann in seiner Zelle? Sie konnten sie jederzeit in der Nähe einschließen, gerade eben außer Reichweite, so dass er ihr Leiden beobachten, ihr aber nicht helfen konnte.
Plötzlich wollte er sie töten, nur um ihnen eins auszuwischen.
Nein, das will ich nicht, sagte er sich schnell und schauderte bei dem Gedanken, dass er so leicht zum Mörder werden könnte.
»Töte mich«, erklang das Wispern von neuem. Ein Schauder überlief ihn.
Gab es eine Möglichkeit, sie zu töten, ohne Beweise für die Tat zu hinterlassen? Wenn die Verletzungen, die der Vernehmer ihr zugefügt hat, schlimm genug sind … nein, er würde sichergestellt haben, dass sie nicht so schlimm waren. Doch nach dem Geräusch ihres Atems zu urteilen, war etwas in ihrer Brust beschädigt. Vielleicht war eine Rippe angerissen oder gebrochen. Wenn er sie manipulieren konnte …
Aber das würde bedeuten, dass er heilende Kraft benutzte, um zu töten. Heiler sollten heilen, nicht schaden.
Nun, das war schon immer eine komplizierte Philosophie. Wenn man einen Körper aufschnitt, um einen Tumor zu entfernen, musste man schaden, um zu heilen. Und dann war da noch die Diskussion, die sich darum drehte, Menschen beim Sterben zu helfen. Und meine Mutter hat Heilung zur Verteidigung benutzt, um einige der Ichani zu töten, die in Kyralia eingefallen sind.
»Www …«
Ein leises Geräusch kam von dem Mädchen, und er drehte widerstrebend den Kopf, um sie wieder anzusehen. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Nein, korrigierte er sich, sie streckt die Hand nach meinen Beinen aus.
»Wwwasser«, keuchte sie.
Erleichterung stieg in ihm auf, als er begriff, dass sie jetzt nur um etwas zu trinken bat. Er zog sich in eine sitzende Position hoch. Der Sklave, der das Essen brachte, hatte eine Mahlzeit dagelassen. Lorkin hatte versucht, sie mit der Sklavin zu teilen, aber sie hatte sich geweigert, etwas zu essen. Er griff nach dem Wasserkrug und erstarrte, weil er sich an die warnenden Glyphen erinnerte, die darauf schließen ließen, dass es gefährlich war.
Ich frage mich, wie gefährlich …
Er zuckte vor dem Gedanken zurück, aber er ließ sich nicht verdrängen. Wenn das Wasser vergiftet war und sie es trank, würde sie vielleicht den Tod finden, den sie wollte, ohne dass irgendjemand außer ihm selbst wusste, dass es seine Schuld war. Nun, bis auf die Verräterin, die die Warnung hinterlassen hat. Ein Schauder überlief ihn.
Wenn die Sklavin eine Verräterin war, wusste sie vielleicht von den Warnungen. Sie könnte wissen, dass das Wasser sie töten würde. Er drehte sich zu ihr um. Sie erwiderte seinen Blick, und ihre Augen schienen zu sagen: Ja. Befreie mich.
Wenn sie eine Verräterin war, mussten sie wissen, dass sie hier war. Hatten sie ihr die Möglichkeit gegeben, sich zu töten?
Aber würde das Wasser sie töten? Er ließ den Arm sinken. Der Ashaki musste derjenige sein, der Lorkins Essen vergiftete. Gewiss versuchten sie nicht, ihn zu töten? Tot war er ihnen nicht von Nutzen. Höchstwahrscheinlich sollte das Gift im Wasser ihm Übelkeit bescheren oder ihn zwingen, mehr von seiner Stärke zu verbrauchen, indem er sich selbst heilte. Trotzdem, sie könnten überlegen, dass er, je stärker das Gift war, umso mehr Magie benutzen musste. Es könnte eine tödliche Dosis sein.
Die Frau gab einen leisen Laut von sich und streckte ihren unversehrten Arm nach dem Krug aus. Draußen vor der Zelle beobachtete der Beobachter sie beide.
Töte mich. Befreie mich.
Lorkin schaute von ihr zu dem Wasser. Er musste eine Entscheidung treffen. Und es gab keine richtige Entscheidung. Was er auch beschloss, die Konsequenzen würden schockierend sein. Was er auch beschloss, danach würde er nie wieder derselbe sein.
Nach der Art zu schließen, wie Lilia zugegeben hatte, dass sie Soneas Tante von ihrem Aufenthalt unter der Gilde erzählt hatte, war klar, dass sie dachte, dass sie wütend sein würden. Was erheiternd und liebenswert ist, wenn man bedenkt, dass sie eine Magierin ist und wir bloß einfache Leute, dachte Cery. Sie war ein wenig auf und ab gegangen, während sie erklärt hatte, dass die Dienerin ihr gefolgt war und was sie beide besprochen hatten. Jetzt wirkte sie überrascht, dass niemand die Neuigkeiten mit Sorge aufnahm.
»Es ist besser, dass Jonna es weiß, als dass irgendjemand sonst dort oben davon Kenntnis hat«, stellte Anyi fest. »Tatsächlich könnte sie nützlich sein.«
»Jonna hat mich nie gemocht«, bemerkte Cery. »Aber das war damals, als ich noch ein Junge war und sie dachte, ich würde Sonea verderben. Sie wusste, dass ich während der letzten zwanzig Jahre immer mal wieder in Soneas Zimmer geschlüpft bin, aber sie hat niemals jemandem davon erzählt. Die Chancen stehen gut, dass man ihr trauen kann.«
»Wenn Sonea ihr vertraut, schätze ich, ist sie in Ordnung«, stimmte Gol ihm zu.
Lilias Augen leuchteten auf. »Du hast Sonea während der letzten zwanzig Jahre besucht?«, fragte sie Cery.
Er zuckte die Achseln. »Natürlich. Du denkst doch nicht, dass irgendeine Regel, die verbietet, dass Magier Kontakt zu Verbrechern haben, sie daran hindern würde, mit ihren alten Freunden zu reden, oder?«
»Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass das einen von euch beiden an irgendetwas gehindert hätte. Ich frage mich, was die Leute sagen würden, wenn sie es wüssten. Es wäre ein Skandal, da bin ich mir sicher.« Lilia lächelte und setzte sich neben Anyi. »Sie würden außerdem endlich wissen, warum Sonea nie geheiratet hat.«
Cery runzelte die Stirn, als er begriff, dass sie angenommen hatte, seine Besuche seien romantischer Natur gewesen. »Moment mal. Ich habe nicht … das ist nicht der Grund, weshalb ich sie besucht habe.«
Gol begann zu lachen. »Du hast es gewiss so klingen lassen. Für einen Moment dachte ich, du hättest es während all dieser Zeit geschafft, etwas vor mir zu verbergen.«
Anyi drohte Lilia spielerisch mit dem Finger. »Mein Vater war während der letzten zwanzig Jahre glücklich verheiratet«, sagte sie entrüstet. Dann verzog sie das Gesicht. »Nun, jedenfalls während seiner zweiten Ehe – aber er war vorher mit meiner Mutter verheiratet, selbst wenn es nicht direkt das war, was man ›glücklich verheiratet‹ nennen würde.«
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht andeuten, dass er untreu war«, entschuldigte sich Lilia.
Gol kicherte wissend.
Es war Zeit, das Thema zu wechseln, fand Cery. »Ich habe darüber nachgedacht, was wir als Nächstes tun sollten«, sagte er. Sofort richteten sich aller Augen auf ihn. Anyi wirkte eifrig, Lilia erleichtert, und Gol kniff die Augen zusammen, zweifellos bereit, Löcher in allen Plänen zu finden, die Cery ausgeheckt hatte. »Was wir tun, liegt auf der Hand, sobald wir angefangen haben, weniger darüber nachzudenken, dass wir hier festsitzen, und mehr darüber, dass wir unseren Aufenthalt hier in einen Vorteil verwandeln können.«
Jetzt wirkte Lilia ein wenig besorgt.
»Wir sind hier sicher – nicht weil Skellin nicht erraten haben wird, dass wir den Schutz der Gilde gesucht haben, sondern weil er es nicht riskieren wird hierherzukommen«, fuhr er fort. »Er wird annehmen, dass wir uns, wenn wir hier sind, in einem der Gebäude der Gilde befinden, unter magischem Schutz. Wenn er erführe, dass wir unter der Gilde sind und dass die Magier nichts davon wissen, würde er kommen und uns alle töten – und sehr selbstzufrieden sein, dass er es getan hat, ohne dass die Gilde es bemerkt hat.«