Und unerwartet beruhigend, wurde ihr bewusst.
Seit sie zum ersten Mal in den versteckten Kamin zwischen den Vertäfelungen von Soneas Hauptzimmer und der Außenmauer der Magierquartiere geklettert war, fragte sich Lilia, welches sein ursprünglicher Zweck gewesen war. In allen Räumen gab es solche Kamine, aber Lilia vermutete, dass keiner der Bewohner von ihrer Existenz wusste. Ziegelsteine ragten in regelmäßigen Abständen aus der Mauer hervor: Sie konnten nur als eine Art Leiter gedacht gewesen sein.
Cerys Vermutungen schlossen Müllrutschen und Abtritte ein. Glücklicherweise gab es keine Anzeichen dafür, dass der Schacht in letzter Zeit für den einen oder anderen Zweck benutzt worden war. Lilia kam er jedenfalls wie ein Schornstein vor, obwohl sich keine Spuren von Ruß auf den Ziegeln oder dem Mörtel befanden.
Oben angelangt, spähte sie durch das Guckloch, das Cery vor langer Zeit gebohrt hatte. Soneas Hauptraum war leer.
Wo ist Jonna?
Vielleicht war die Dienerin in einen der anderen Räume gegangen. Vielleicht war sie weggerufen worden. Lilia griff nach dem Riegel, dann zögerte sie. Es war durchaus möglich, dass Jonna mit einem Besucher in einem der Schlafzimmer war, obwohl Lilia kein guter Grund einfiel, warum ein Fremder bei ihr sein sollte … abgesehen von einigen skandalösen Gründen. Aber Lilia konnte sich nicht vorstellen, dass Jonna so etwas tun würde.
Sie klopfte leicht gegen die Vertäfelung, in einem willkürlichen Muster, das jeder, der nicht wusste, dass hinter dem Holz eine Lücke war, vielleicht für das Scharren eines Käfers halten würde. Einen Moment später kam Jonna in den Raum geeilt, und ihr Blick wanderte zu dem Guckloch. Obwohl sie Lilia nicht sehen konnte, nickte sie und winkte mit einer Hand.
Der Riegel glitt lautlos auf, dann schwang die Tür leise nach innen. Jonna trat vor, um Lilia herauszuhelfen. Der Durchlass befand sich etwas zu hoch in der Wand, als dass der Schritt hinab noch ganz angenehm gewesen wäre, vor allem, wenn man sich wie Lilia tief bücken musste, um hindurchzupassen.
»Wie geht es ihnen?«, fragte Jonna.
»Gut«, antwortete Lilia. »Sie sind dankbar für deine Hilfe. Ist Schwarzmagier Kallen schon zurück?«
»Ja, seit ungefähr zehn Minuten.«
Lilia ging zu ihrem Schlafzimmer, um wieder ihre Roben anzuziehen. »Dann sollte ich mich besser beeilen, oder ich werde ihn in seinem Nachtgewand erwischen.«
Jonna gab einen kleinen, erheiterten Laut von sich. »Das wäre ein seltsamer Anblick.«
Lilia grinste. »Das wäre es sicher.«
Die schlichte Hose und die Bluse, die Jonna für sie gefunden hatte und die sie trug, wenn sie Cery und Anyi besuchte, waren viel besser zum Klettern geeignet, und sie verspürte eine Woge der Dankbarkeit, als sie die aufgeschürften Stellen und die Flecken sah, die sie sich in dieser Nacht zugezogen hatte. Es war besser, diese Kleider zu verderben als ihre Roben.
Nachdem sie sich schnell umgezogen hatte, kehrte sie in den Hauptraum zurück.
»Danke, dass du auf mich gewartet hast«, sagte sie zu Jonna. »Du brauchst jetzt nicht länger zu bleiben. Ich werde nach meinem Gespräch mit Kallen direkt wieder zurückkommen.«
Jonna zuckte die Achseln. »Es macht mir nichts aus zu bleiben.« Sie straffte sich und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe Sonea versprochen, ein Auge auf Euch zu halten, und ich werde nicht gut schlafen, bis ich weiß, dass Ihr zu einer anständigen Stunde wieder in Eurem Bett liegt.«
Lilia verdrehte die Augen und seufzte. »Niemand hat sich jemals darum Sorgen gemacht, als ich im Novizenquartier gewohnt habe.« Aber es störte sie nicht. Es war schön, dass sie jemandem wichtig genug war, dass er auf sie achtgab. Ich will ohnehin nicht mehr Zeit mit Kallen verbringen als unbedingt nötig.
Nachdem sie durch die Haupttür in den Flur geschlüpft war, ging sie zu Kallens Räumen und klopfte an. Kurze Zeit später schwang die Tür nach innen auf. Sofort nahm sie den schwachen Duft von Feuel-Rauch war, aber er war abgestanden und verblasst, als käme er aus den Möbeln. Kallen saß in einem großen Sessel, ein Buch in der Hand und einen Ausdruck milder Überraschung auf dem Gesicht.
»Lady Lilia«, begrüßte er sie. »Kommt herein.«
Sie trat ein, drückte die Tür zu und verneigte sich. »Schwarzmagier Kallen.«
»Was kann ich für Euch tun?«, fragte er.
Er zeigte den geduldigen Gesichtsausdruck eines Lehrers, der zu einem schlechten Zeitpunkt von einem Novizen gestört wurde. Sie verkniff sich ein Lächeln. Sie fungierte als Botin, nicht als Novizin, und ihre Botschaft war viel wichtiger als eine bloße Unterrichtsstunde.
»Ihr wisst, dass ich mich gelegentlich mit Anyi treffe, meiner Freundin und der Leibwächterin des Diebes Cery«, begann sie und setzte sich auf einen Stuhl. »Ohne das Gelände der Gilde zu verlassen«, fügte sie eilig hinzu.
Er nickte. »Ja.«
»Ich habe Euch bereits gesagt, dass Cery sich versteckt und seine …« Sie wedelte mit der Hand und suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Seine geschäftlichen Arrangements und … Kontakte nicht aufrechterhalten kann.«
»In der Stadt halten ihn alle für tot.«
»Es ist wahrscheinlich, dass Skellin nicht glauben wird, dass Cery tot ist, bis er einen Leichnam sieht.«
Kallen nickte. »Oder bis hinreichend Zeit verstreicht.«
»Das macht Cery zu dem idealen Köder, um Skellin damit anzulocken. Was seine eigene Idee war«, versicherte sie ihm. »Er hat mich gebeten, Euch auszurichten, dass er bereit ist, es zu tun, und er schlägt vor, dass Ihr Euch mit ihm trefft, um Euch auf einen Ort und eine Zeit zu verständigen.«
»Hmm.« Kallen runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Das ist ein sehr großzügiges und mutiges Angebot. Eines, das ich bewundere und zu schätzen weiß, und ich bin mir sicher, die restlichen Gildemitglieder würden genauso denken, wenn sie davon wüssten. Ein Angebot, das wir vielleicht aufgreifen werden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht jetzt. Wir erkunden eine andere Möglichkeit. Ich kann Euch noch keine Einzelheiten nennen, aber wenn das Unternehmen Erfolg hat, werden wir Cerys Leben überhaupt nicht aufs Spiel setzen müssen.«
Lilia verspürte eine flüchtige Enttäuschung, dann Erleichterung, gefolgt von Angst. »Wie lange wird es dauern, bis Ihr es wisst? Cerys Versteck ist … nun, es ist sein letzter sicherer Ort. Wenn Skellin dieses Versteck entdeckt, wird Cery nirgendwo sonst hingehen können.«
»Was wir tun, lässt sich nicht überstürzen. Es könnte Wochen oder Monate dauern. Wie lange glaubt Cery, dass er sich versteckt halten kann?«, fragte Kallen.
Wochen! Monate! Ärger loderte in ihr auf, aber als sie Kallen anblickte, sah sie aufrichtige Sorge in seinen Augen. Der Ärger verebbte.
»Ich weiß es nicht. Er weiß es nicht. Skellin könnte ihn heute Nacht finden, er könnte ihn in einigen Wochen finden. Es ist schwierig, an Essen heranzukommen, ohne gesehen zu werden. Wann immer sie rausgehen, ist es ein Risiko.«
Kallen legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. »Ich verstehe. Wir tun alles, was wir können, Lilia. Sagt Cery, dass wir sein Angebot zu schätzen wissen und es vielleicht annehmen werden, wenn unsere anderen Pläne scheitern. In der Zwischenzeit sollte er alles in seiner Macht Stehende tun, um sich weiter verborgen zu halten.«
Lilia nickte, dann seufzte sie. »Ich werde es ihm ausrichten. Aber es wird ihm nicht gefallen.«
»Das nehme ich auch nicht an.« Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, aber plötzlich wurde ein Stirnrunzeln daraus. »Er wird doch nicht aus Ungeduld etwas Törichtes tun, oder?«
Sie verkniff sich ein bitteres Lachen. »Das denke ich nicht, aber er ist ein Dieb. Er ist es gewohnt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.« Als sie sah, dass Kallens Augenbrauen sich noch weiter zusammenzogen, schüttelte sie den Kopf. »Anyi und ich werden alles tun, was wir können, um es ihm auszureden, falls er es versucht. Und Gol predigt Cery auch immer Vernunft, vermute ich.«