Kallen nickte. »Gut.«
Lilia stand auf und strich ihre Roben glatt. »Ich sollte besser gehen. Gute Nacht, Schwarzmagier Kallen. Ich hoffe, Eure Pläne werden erfolgreich sein.«
Er nickte. »Vielen Dank. Gute Nacht, Lady Lilia.«
Als sie sich zur Tür umdrehte, schwang diese auf. Lilia trat in den Flur hinaus und atmete voller Erleichterung die sauberere Luft draußen ein. Dann verdüsterte sich ihre Stimmung wieder.
Das wird Cery nicht gefallen. Aber ich denke, er vertraut … nein, es ist mehr so, dass er Kallen respektiert, als dass er ihm vertraut … jedenfalls respektiert er ihn genug, um abzuwarten, ob diese anderen Pläne funktionieren. Doch das war nicht das Hauptproblem. Wie soll ich Wochen – vielleicht sogar Monate – dafür sorgen, dass sie zu essen bekommen und nicht entdeckt werden? Irgendjemand muss irgendwann etwas bemerken.
Sie konnte nur hoffen, dass sie das mit Jonnas Hilfe verhindern konnte oder dass Kallens »andere Pläne« Erfolg hatten.
12
Spione
Denkst du, wir sollten warten, bis Lilia bei uns ist?«, fragte Anyi, während sie die Decke des Tunnels musterte.
Cery hob seine Lampe. »Das sieht nicht so aus, als würde es genau in diesem Moment einstürzen.« Der Tunnel war lang, und Anyi hatte ein flottes Tempo vorgegeben. Zu flott. Er hatte die leicht eingesackte Decke ausgenutzt, um innezuhalten und wieder zu Atem zu kommen, und er hoffte, dass die anderen denken würden, er sei nur vorsichtig. »Aber woher soll man das so genau wissen?«
»Keine Ahnung«, gab Anyi zu. »Ich nehme an, der Tunnel wird nicht einstürzen, solange wir nichts anfassen. Aber wir sollten nicht hierbleiben.«
Gol gab einen leisen Laut von sich, der nahelegte, dass sie beide verrückt waren. Er besah sich die Baumwurzeln, die von der Decke hingen und sich in den Wänden des Tunnels fortsetzten. Als er einen Schritt darauf zu machte, begriff Cery, dass es kein Stirnrunzeln der Missbilligung, sondern des Interesses war.
Dann sah er, was Gol aufgefallen war. Durch die Wurzeln fiel kein Licht, wie es das hätte tun sollen. Dahinter musste es dunkel sein. Er ging näher heran, griff mit dem Finger in die Kaskade weißer Wurzeln und zog vorsichtig. Sie ließen sich ohne jeden Widerstand abziehen.
Sie hängen nirgends dran. Hinter ihnen ist ein Hohlraum.
»Wir wollten doch nichts anfassen …«, begann Anyi, als er die Wurzel beiseitezog. »Oh.«
Vor ihnen öffnete sich der Eingang zu einem anderen Tunnel. Das gleiche verfallene Mauerwerk hielt die Erde zurück und bildete das Dach des Gangs. Cery sah seine Tochter an und lächelte, als sie mit leuchtenden Augen hineinspähte.
»Also, das nenne ich Glück«, bemerkte sie. »Wenn wir fliehen müssen, können wir hier hindurchschlüpfen. Solange unser Verfolger, wer immer er auch sein mag, nicht sieht, wie wir hier verschwinden, würde er niemals wissen, wo wir geblieben sind.«
»Willst du es auskundschaften?«, fragte Cery.
»Natürlich.«
Cery blickte wieder zu Gol hinüber. »Bleib hier. Wenn du irgendetwas wie einen Einsturz hörst, geh und hol Lilia.«
Gol sah aus, als wollte er Einwände erheben, aber dann stieß er einen schweren Seufzer aus und nickte. Cery hielt die Wurzeln zurück, so dass Anyi hindurchschlüpfen konnte. Sie bewegte sich langsam und hob ihre Lampe, um die Wände, die Decke und den Boden des Gangs zu untersuchen. Der Tunnel war in keinem schlechteren Zustand als der, dem sie gefolgt waren. Teile waren verfallen, aber im Wesentlichen wirkte er solide.
Während sie den Gang entlangwanderten, fragte sich Cery, wie Lilias Gespräch mit Kallen verlaufen sein mochte. Sie würden bis zum Morgen nichts von ihr hören. Cery hatte beschlossen, dass sie die Nacht damit verbringen sollten, die Tunnel zu erkunden und zu überlegen, wo sie ihre Falle für Skellin aufstellen könnten. Anyi glaubte, dass sie Skellin zu den unterirdischen Räumen in der Nähe der Universität locken sollten, so dass sie nach oben entkommen konnten. Die Räume waren diejenigen, in denen Cery Anyi und Lilia angetroffen hatte. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde, als er sich daran erinnerte. In dem Hurenhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte er Frauen kennengelernt, die die Zuneigung anderer Frauen gesucht hatten, und einige von ihnen hatten Bande geknüpft, die viele Jahre hielten. Es war nur einer von vielen Wegen gewesen, auf denen er Menschen hatte Freude, Kameradschaft und Liebe suchen sehen. Doch er lernte auch, dass er in einer besonders toleranten Welt lebte. Die meisten Menschen außerhalb dieser Welt billigten nichts, was sich von ihrer eigenen Erfahrung und ihren eigenen Vorlieben unterschied. Und nicht nur Menschen aus den höheren Klassen. In der Unterwelt war es genauso.
Ich frage mich, ob ihre Mutter es weiß. Vesta hat immer das Gefühl genossen, besser zu sein als andere. Sie hat bei anderen immer nach etwas Ausschau gehalten, das sie missbilligen konnte. Manchmal denke ich, sie wollte mich nur deshalb, weil ich ein Dieb war. Es gab ihr das Gefühl, wichtiger zu sein als die meisten anderen. Nun, für eine Weile hat es funktioniert.
Auf keinen Fall wollte er, dass Anyi das Gefühl hatte, nicht akzeptiert zu werden. Gewiss machte es ihm nichts aus, dass sie mit Lilia zusammen war, aber … ein kleiner Stich des Neids durchzuckte ihn. Ich habe früher einmal eine Gildemagierin geliebt, aber diese Liebe ist nur als Freundschaft erwidert worden. Er schüttelte den Kopf. Das klingt zu verdrossen. Soneas Freundschaft ist keine Kleinigkeit, und ich habe tatsächlich anderswo Liebe gefunden.
Er fragte sich, ob Anyi in der Vergangenheit viele Geliebte gehabt hatte, dann erinnerte er sich an ihre Geschichte von einem Partner, der sie verraten hatte. Aha. Das muss der Grund gewesen sein, warum ich ihn nie gefunden habe. Es war kein »er«, es war eine »sie«.
Anyi keuchte leise auf. »Sieh dir das an!«, flüsterte sie.
Der Tunnel endete vor einer Backsteinmauer, aber es war keine gewöhnliche Mauer. Man hatte sie mit einem schon vertrauten Mechanismus versehen – es war eine verborgene Tür. Cery entdeckte ein Guckloch, über dem ein Messingdeckel lag. Der Deckel war steif und grün vom Alter, aber es gelang Cery, ihn aufzuschieben. Als er hindurchschaute, sah er nur Dunkelheit.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte er.
»Willst du versuchen, die Tür zu öffnen?«, fragte Anyi.
Cery dachte nach. Wenn er seiner Phantasie die Zügel schießen ließ, beschwor sie gefährliche Gefangene oder eingekerkerte Ungeheuer herauf, die nur auf die Chance warteten freizukommen – und alles zu töten, was ihnen im Weg stand.
Wahrscheinlicher ist, dass es sich um einen alten Lagerraum handelt. Außerdem ist hier kein Schloss, das irgendjemanden daran hindert, die Tür von der anderen Seite zu öffnen, soweit ich feststellen kann.
Er nickte.
Anyi nahm den Griff und zog daran, aber die Tür bewegte sich nicht. Als Cery sich den Mechanismus genauer besah, stellte er fest, dass er nicht verrostet war. An den Angeln hingen dicke schwarze Klumpen. Er stocherte darin. Sie waren weich. Wahrscheinlich altes Öl oder Fett, das mit der Zeit dick geworden war. Cery versuchte sich ebenfalls an dem Griff, und dann setzten sie beide gleichzeitig ihre ganze Kraft ein, aber ohne Erfolg.
»Geh und hol Gol«, sagte Cery.
Er spähte wieder durch das Guckloch – er versuchte sogar, die Lampe hochzuhalten und gleichzeitig hindurchzuschauen, sah aber jenseits der Tür nichts als Dunkelheit. Ihm kam der Gedanke, dass das Loch vielleicht blockiert war. Er zog einen Pick aus seinem Mantel und schob ihn hindurch, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen. Also war das Loch nicht blockiert, es herrschte lediglich Dunkelheit auf der anderen Seite der Tür.
Vielleicht ist es eine Falle, vor langer Zeit eingerichtet von Akkarin oder irgendjemand anderem. Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum wir Fallen stellen wollen: um Verfolger zu narren und aufzuhalten. Wer weiß, welche Gründe die Gilde in der Vergangenheit hatte, diese Tunnel zu graben.