»Was ist los?«, fragte Regin.
Ihr wurde bewusst, dass sie sich nach vorn gebeugt und sich den Hals verrenkt hatte, um besser nach draußen sehen zu können. Jetzt lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück und zuckte die Achseln.
»Ich dachte, ich hätte etwas wiedererkannt.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine Stelle, an der wir haltgemacht haben, beim letzten Mal.«
»Ist … dort etwas passiert?«
»Nicht wirklich. Niemand hat während dieser Reise viel gesprochen.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Akkarin wollte nicht mit mir reden.« Aber ich habe ihn immer wieder dabei ertappt, dass er mich ansah. »Er war wütend auf mich.«
Regin zog die Augenbrauen hoch. »Weshalb?«
»Weil ich dafür gesorgt hatte, dass sie mich mit ihm ins Exil schickten.«
»Warum sollte er deswegen wütend sein?«
»Sein Plan – oder zumindest dachte ich das damals – bestand darin, sich von Ichani fangen zu lassen und das Ergebnis an alle Magier zu übermitteln.«
Regins Augen weiteten sich ein wenig. »Eine mutige Entscheidung.«
»Oh, sehr ehrenhaft«, erwiderte sie trocken. »Schockiere die Gilde so sehr, dass sie die Gefahr begreift, der sie gegenübersteht, während sie die einzige Person opfert, die etwas dagegen unternehmen könnte.«
»Aber das war nicht er. Das wart ihr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht genug. Ich wusste nicht einmal, wie man Blutringe macht. Wir hätten die Ichani nicht besiegt, wenn er nicht überlebt hätte.« Aber das war nicht der Grund, warum du ihm gefolgt bist, rief sie sich ins Gedächtnis. Du hast es getan, weil du Akkarin nicht sterben lassen konntest. Liebe ist selbstsüchtig. »Indem ich ihn zwang, mich am Leben zu erhalten, habe ich ihn gezwungen, sich selbst am Leben zu erhalten.«
»Diese Wochen müssen furchtbar beängstigend gewesen sein.«
Sie nickte, aber ihre Gedanken wanderten plötzlich zu den Verrätern. Sie hatte immer den Verdacht gehabt, dass mehr hinter Akkarins Zeit in Sachaka steckte, als er ihr erzählt hatte. Einmal, als er Tatsachen für sein Buch überprüfte, hatte Lord Dannyl sie gefragt, ob irgendetwas dran sei an dem Gerücht, dass Akkarin in der Lage gewesen sei, die spontanen Gedanken einer Person zu lesen, ohne diese Person zu berühren. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Akkarin davon gesprochen hatte. Die Menschen hatten Akkarin alle möglichen außergewöhnlichen Fähigkeiten zugeschrieben, noch bevor offenbart wurde, dass er schwarze Magie erlernt hatte.
Vielleicht war er dazu in der Lage, hat es jedoch geheim gehalten. Wie sein Abkommen mit den Verrätern. Getroffen mit keiner geringeren Person als der Königin der Verräter, obwohl sie damals noch nicht Königin gewesen war. Ich bin mir sicher, dass er mir erzählt hat, die Person, die ihn schwarze Magie lehrte, sei ein Mann gewesen. War es eine vorsätzliche Lüge, um zu helfen, die Existenz der Verräter verborgen zu halten? Ich kann nicht umhin, ein wenig gekränkt darüber zu sein, dass er mir die Wahrheit nicht anvertraut hat, aber andererseits hätte ich auch nicht gewollt, dass er ein Versprechen bricht, das er jemandem gegeben hat, der ihm das Leben gerettet hat.
Seufzend blickte sie aus dem Fenster zur Sonne hinüber, die tief am Himmel hing. Ihre Erinnerung an das Ende der Fahrt zum Fort beinhaltete nackten Fels und wenig Vegetation. Jetzt trat zwar hier und da kahler Fels zutage, aber der Baumbestand war wesentlich üppiger, als sie es in Erinnerung hatte. Wir werden später eintreffen, als ich geplant habe – vielleicht sogar nach Einbruch der Dunkelheit.
Eine scharfe Kurve zwang sie, sich abzustützen. Überrascht lehnte sie sich dicht ans Fenster und blinzelte angesichts der unerwarteten Helligkeit einer hohen, gewölbten Mauer, die vor ihnen in der späten Sonne gelb loderte.
Doch nicht so spät, dachte sie. Auf all den kahlen Flächen, die ich in Erinnerung habe, scheinen jetzt Bäume zu stehen.
»Wir sind da«, sagte sie zu Regin, und er setzte sich neben sie, so dass er auf der anderen Seite aus dem Fenster schauen konnte.
Sie beobachtete sein Gesicht und erhaschte Echos der Ehrfurcht, die sie als junge Frau verspürt hatte, als sie das Fort zum ersten Mal sah. Das Gebäude war ein riesiger, aus solidem Fels gehauener Zylinder und füllte die Lücke zwischen zwei hohen, fast vertikalen Felswänden aus. Aber als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, sah sie, dass die Front des Forts nicht so makellos glatt war, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ein Stein von anderer Farbe war benutzt worden, um große Risse und Löcher zu füllen. Das mussten Reparaturen sein, die nach der Invasion der Ichani durchgeführt worden waren. Sie schauderte bei der Erinnerung an die Schlacht hier, die alle Magier mit angesehen hatten, weil der Krieger, der die Verstärkung des Forts anführte, Lord Makin, ihnen seine Eindrücke vermittelt hatte, bis er unter den Händen der Eindringlinge gefallen war.
Die Kutsche kam vor dem Turm zum Stehen. Ein rotgewandeter Magier und der Hauptmann der Festungswache eilten ihnen entgegen. Sonea entriegelte und öffnete den Wagenschlag mit Magie, dann hielt sie inne, um Regin anzuschauen. Die Aufregung in seinen Zügen ließ ihn jünger aussehen – beinahe knabenhaft. Es brachte eine blitzartige Erinnerung an ihn als lächelnden jungen Mann an die Oberfläche, aber sie glaubte nicht ganz, dass die Erinnerung real war. In ihrer Erinnerung an den Regin dieses Alters war sein Lächeln stets voller bösartigem Triumph oder Häme gewesen.
Doch das ist lange her, dachte sie, als sie aus der Kutsche stieg. Tatsächlich erinnere ich mich nicht daran, dass er in diesem letzten Jahr viel gelächelt hätte. Es sei denn mit erzwungener Höflichkeit oder vielleicht aus Mitgefühl. Zu ihrer Überraschung war sie traurig. Er ist ein sehr unglücklicher Mann, begriff sie.
»Seid mir gegrüßt, Schwarzmagierin Sonea«, sagte der rotgewandete Magier. »Ich bin Wächter Orton. Dies ist Hauptmann Pettur.«
Der Hauptmann verneigte sich. »Willkommen im Fort.«
»Wächter Orton.« Sonea neigte den Kopf. »Hauptmann Pettur. Danke für das herzliche Willkommen.«
»Plant Ihr immer noch, über Nacht zu bleiben?«, fragte Orton.
»Ja.« Der Titel eines Wächters war für den Anführer der Magier geschaffen worden, die jetzt zusammen mit der regulären, nichtmagischen Garde das Fort bewachten. Die Gilde hatte sich Sorgen gemacht, dass kein Magier sich für die Rolle freiwillig melden würde, daher hatten sie dem Amt zusätzliche Vorteile in Gestalt von Einfluss und Wohlstand gegeben. Das wäre nicht notwendig gewesen. Wächter Orton und sein Vorgänger waren beides Männer, die gegen die sachakanischen Eindringlinge gekämpft hatten und entschlossen waren, dafür zu sorgen, dass kein Sachakaner jemals wieder so leicht nach Kyralia kommen konnte.
»Hier entlang«, sagte Orton und deutete auf die offenen Tore am Fuß des Turms.
Sonea verspürte einen Schauder des Wiedererkennens, als sie den Tunnel dahinter sah. Sie traten in das sehr gedämpfte Licht, das in dem Durchgang herrschte. Lampen beleuchteten den Weg und offenbarten weitere Reparaturarbeiten und die Fallen und Barrieren, die hinzugefügt worden waren.
»Wir haben ein Denkmal für jene errichtet, die zu Beginn der Invasion hier gestorben sind«, erklärte Orton und zeigte auf die Mauer vor ihnen, in die eine Liste mit Namen eingelassen war.
Sonea blieb stehen, um die Namen zu lesen. Sie fand Lord Makins Namen, aber die übrigen waren ihr unvertraut. Viele der Opfer waren einfache Gardisten gewesen. Ganz oben auf der Liste standen längere Namen von Männern, deren Haus und Familie genannt wurden – Männer aus der höchsten Klasse, die eine Laufbahn in der Garde angestrebt hatten und denen eine Position von Macht und Respekt sicher gewesen war.
Noch darüber standen die Magier. Die Namen von Familien und Häusern waren vertraut, aber sie war zu jung gewesen und zu neu in der Gilde, um irgendwelche von den Magiern persönlich gekannt zu haben. Bis auf einen.