Anschließend war der Ashaki, der ihn verhört hatte, eingetroffen. Lorkin hatte erwartet, dass er voller Häme sein und offenbaren würde, dass der Tod der Sklavin von Anfang an geplant war, aber er hatte das tote Mädchen stumm untersucht, kein Wort zu Lorkin gesagt und war mit einem besorgten Stirnrunzeln davongegangen.
Am nächsten Morgen hatten Männer, die Lorkin noch nie zuvor gesehen hatte, ihn aus der Zelle geholt und in einen kleinen Innenhof gebracht. Als die Kutsche, in die sie ihn gesetzt hatten, am Gildehaus angelangt war, hatte Lorkin sich gefragt, ob er einen besonders lebhaften Traum hatte.
Es war kein Traum. Der König hatte ihn freigelassen. Es war keine Erklärung dafür abgegeben worden. Keine Entschuldigung für seine Einkerkerung. Nur der Befehl, im Gildehaus zu bleiben.
Warum?
Lorkin rollte sich auf die Seite. Seine Lichtkugel brannte sanft über ihm, und er hatte eine Barriere über die Tür gelegt; beides verbrauchte langsam, was noch von der Magie übrig war, die Tyvara ihm gegeben hatte. Obwohl er jetzt in einem anderen Raum schlief als dem, in dem Riva gestorben war, war die Erinnerung an jemanden, der in der Dunkelheit auf sein Bett gekrochen war, überraschend lebhaft und unangenehm – ungeachtet der Tatsache, dass das Erlebnis selbst zu Beginn recht angenehm gewesen war. Er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, dass jemand in der Dunkelheit lauerte oder dass er neben einem Leichnam lag.
Augen, die blicklos zur Decke emporstarren. Wie die Sklavin in dem Gefängnis.
Er schaute zu der leuchtenden Kugel hoch und gab seine Hoffnung auf Schlaf auf.
Dann öffnete er die Augen, und obwohl sich nichts verändert hatte, wusste er, dass Zeit vergangen war. Er war eingeschlafen, nachdem er den Versuch einzuschlafen aufgegeben hatte. Aber warum war er aufgewacht? Er konnte sich an keinen Traum oder Albtraum erinnern.
Ein dumpfer Aufprall aus dem zentralen Raum ließ sein Blut gefrieren, und er erstarrte. Er zwang sich, den Kopf zu drehen, schaute an der Schlafzimmertür vorbei und sah Licht in dem Raum dahinter.
Irgendjemand ist dort drin …
Er ließ die Barriere über der Tür fallen und schuf eine um sich selbst herum, dann erhob er sich und näherte sich vorsichtig dem anderen Raum. Zwei Sklaven befanden sich mitten im Raum. Ein junger Mann lag auf dem Boden, und eine Frau in mittleren Jahren beugte sich über ihn, eine Hand auf seinen Kopf gedrückt, ein Messer in der anderen.
Oh nein. Nicht schon wieder.
Aber dann blinzelte der Mann. Er lebte. Sie liest seine Gedanken, begriff Lorkin. Als sie zu ihm aufschaute, erkannte er in ihr eine der Küchensklavinnen. »Lorkin«, sagte sie. Sie nahm die Hände von der Stirn des Mannes und stand auf. »Ich bin Savi. Die Königin lässt Euch grüßen.«
Lorkin nickte. »Wie geht es ihr?«, fragte er automatisch, dann wurde ihm klar, dass er sich zuerst bei der Frau bedanken sollte, da der Mann, den sie niedergerungen hatte, höchstwahrscheinlich beabsichtigt hatte, ihn umzubringen.
»Sie ist tot.« Sie verzog das Gesicht. »Vor zwei Tagen.«
»Oh.« Er dachte an Zaralas schelmische Augen und an ihren Sinn für Humor und verspürte eine Welle der Traurigkeit. »Es tut mir leid, das zu hören. Sie war sehr nett.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Sie wurde doch nicht …? Wie ist sie …?«
»Sie hat das natürliche Ende eines langen Lebens erreicht.« Savi richtete sich auf. »Savara wurde an ihrer Stelle gewählt.«
Lorkin nickte abermals, nicht sicher, ob es höflich war, Freude über die Nachricht von einer neuen Königin zum Ausdruck zu bringen, wenn die alte erst vor so kurzer Zeit gestorben war. Die Spionin hatte es ihm auf eine sachliche Weise erzählt, die die Vermutung nahelegte, dass sie keine Kommentare von ihm erwartete. Er war froh zu hören, dass Savara zur neuen Königin gewählt worden war. Nicht nur weil sie ihm viele Male geholfen hatte und Tyvaras Vorgesetzte war, sondern weil sie klug, offen und gerecht war.
Die Spionin drehte sich zu der Haupttür um. Der Grund für ihre Geistesabwesenheit erschien einen Moment später, als Dannyl und eine weitere Sklavin eintraten.
Dannyl betrachtete den Mann auf dem Boden, der zwar wach war und sie alle anstarrte, sich aber nicht bewegte, dann sah er Savi und Lorkin an.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Lorkin zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht ganz sicher.« Er wandte sich an Savi.
»Es hat in letzter Zeit einige Neuzugänge bei den Sklaven gegeben, während andere abgezogen wurden, und diese Dinge waren verdächtig«, erklärte sie ihnen. »Dieser hier«, sie deutete auf den Mann auf dem Boden, »ist kein Sklave. Er ist ein Magier von geringem Status. Man hat ihm Land und den Status eines Ashaki angeboten, wenn er sich als Sklave ausgab und half, Lorkin zu entführen.«
»Ihn zu entführen?«, wiederholte Dannyl. »Schon wieder?«
Ein warmer Ausdruck der Erheiterung trat in Savis Augen. »Nicht durch uns. Er hat das Angebot durch einen Freund erhalten. Er glaubt, dass es vom König kam, obwohl er keinen Beweis dafür hat.«
»Natürlich nicht.« Dannyl sah sich im Raum um, und sein Blick konzentrierte sich schließlich auf die Sklavin, die ihn in den Raum gebracht hatte. »Ist sie …?«
»Vertrauenswürdig? Ja«, antwortete die Verräterin.
»Gut.« Dannyl betrachtete die jüngere Frau. »Könntest du Botschafter Tayend wecken und ihn hierherbringen?«
Die Sklavin nickte und eilte davon. Sie hatte sich nicht auf den Boden geworfen oder sich auch nur verbeugt, wurde Lorkin bewusst. Dannyl war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Er ging zu dem Mann hinüber und starrte auf ihn hinab. »Nicht gefesselt«, murmelte er.
»Ich habe seine Stärke genommen«, erwiderte Savi. »Wollt Ihr, dass ich ihn töte?«
»Nein. Jedenfalls nicht jetzt schon. Wir sollten aber nichts in seiner Hörweite oder vor seinen Augen erörtern.«
Die Frau zuckte die Achseln. Eine Kuppel weißen Lichts bedeckte das Gesicht des Mannes. »Er wird Euch nicht hören oder sehen. Ich bin übrigens Savi.«
»Danke für dein Eingreifen, Savi«, sagte Dannyl. »Er denkt also, der König stecke dahinter?«
Sie nickte. »Amakira hat wahrscheinlich beabsichtigt, den Verrätern die Schuld an Lorkins Entführung in die Schuhe zu schieben.«
»Woraufhin er Lorkins Gedanken gelesen hätte …«
»Woraufhin er es versucht hätte«, korrigierte ihn die Spionin.
»Sie hätten die Informationen aus ihm herausgefoltert und ihn dann getötet und es so aussehen lassen, als hätten die Verräter es getan.«
Ein Schauer überlief Lorkin. Bilder der gefolterten Sklavin blitzten vor seinem inneren Auge auf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so lange durchhalten würde wie sie.
Eine Bewegung an der Tür erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum. Tayend trat ein, und die junge Sklavin folgte ihm. Er sah nacheinander den am Boden liegenden Mann, Savi, Lorkin und Dannyl an und hörte schweigend zu, während man ihm alles erzählte, was besprochen worden war.
»Was jetzt zählt, ist die Frage, was der König tun wird, wenn er begreift, dass sein Plan gescheitert ist«, sagte er. »Wir haben keinen Beweis dafür, dass er dies arrangiert hat. Wenn wir es andeuteten, wäre das eine Beleidigung. Er könnte auch beschließen, Lorkin einfach zu seinem eigenen Schutz aus dem Gildehaus zu entfernen.« Er sah Lorkin an. »Irgendwohin, wo niemand ihn finden wird.«
Lorkin zuckte zusammen. »Können wir so tun, als sei nichts geschehen?«
Dannyl und Tayend tauschten einen Blick.
»Könnten wir«, erwiderte Tayend, »wäre dieser Mann hier nicht. Wir können ihn nicht töten. Er gilt wohl als Eigentum des Königs.«