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Eine weitere Planänderung
Gute Reise«, wünschte ihnen Wächter Orton, als die Kutsche auf sachakanischem Gebiet ihre Fahrt fortsetzte. Hier, auf der Nordseite, war das Fort mit einer Reihe kleiner Fenster versehen, einige helle Lichtquadrate, einige dunkel und fast unsichtbar. Sonea blickte zu dem Gebäude zurück, bis es von der Dunkelheit verschlungen wurde.
Dann löschte sie die kleine Lichtkugel, die sie in der Kutsche hatte schweben lassen. Die Dunkelheit fühlte sich passend an, um über Geheimnisse zu sprechen, und doch zögerte Sonea. »Es ist eine Erleichterung zu hören, dass Lorkin aus der Stadt geflohen ist«, stellte Regin fest.
»Ja«, erwiderte Sonea und nutzte die Gelegenheit, das Unvermeidliche noch eine Weile hinauszuzögern. »Dannyl wird ebenfalls froh darüber sein. Ich weiß nicht, wie genau er es arrangiert hat, aber er musste dafür gewiss ein großes Risiko eingehen. Obwohl … wir müssen darauf vertrauen, dass die Nachricht tatsächlich von den Verrätern kommt und dass sie wahr ist.«
»Denkt Ihr, es könnte eine Lüge sein?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn die Nachricht von den Verrätern gekommen ist. Ich werde allerdings den Gedanken nicht los, dass es sich auch um eine kunstvolle List König Amakiras handeln könnte. In dem Fall muss Lorkin ebenfalls gründlich getäuscht worden sein, denn ich habe nicht den geringsten Verdacht bei ihm wahrgenommen, als wir uns mit Hilfe des Blutrings unterhalten haben.« Sie runzelte die Stirn. Tatsächlich habe ich nichts von seinen Gedanken und Gefühlen wahrgenommen. Das ist seltsam. Der Ring hätte mir ermöglichen sollen, das zu tun. Es ist, als ob … aah, natürlich. Lorkins Gedanken waren irgendwie geschützt worden. Möglicherweise auf die gleiche Art, wie Nakis Ring ihre Gedanken geschützt hat. Hatte er einen ähnlichen Edelstein getragen? Stammte Nakis Ring ursprünglich von den Verräterinnen? Wenn ja, wie ist er nach Kyralia gelangt? Sie sagt, er sei in weiblicher Linie in ihrer Familie weitergereicht worden. War eine dieser Frauen eine Verräterin?
»Er hat den Ring jetzt?«
Sie richtete ihre Gedanken wieder auf das Gespräch. »Ja.«
»So habt Ihr also gewusst, dass die Nachrichten von den Verrätern kamen«, sagte Regin, wobei er mehr mit sich selbst sprach als mit ihr.
Sie sah ihn an, oder vielmehr betrachtete sie das, was sie in der Dunkelheit von ihm sehen konnte. Sie hatten einige Stunden Zeit, bevor sie die Kutsche verlassen mussten. Sonea dachte über ihr Zögern nach, Regin zu verraten, was ihre Aufgabe in Sachaka war. Die Verräterinnen hatten ihr zugesagt, dass der Pass sicher sei, obwohl sie empfohlen hatten, dass sie bei Nacht und so unauffällig wie möglich reisen sollte. Sobald sie es Regin erzählte, würde er Fragen haben. Wenn sie es ihm nicht erzählte, bis es Zeit wurde, aus der Kutsche zu steigen, würde sie vielleicht nicht genug Zeit haben, seine Fragen zu beantworten, bevor sie gezwungen sein würden, Stillschweigen zu bewahren. Ja, ich denke, es muss jetzt geschehen.
»Lord Regin«, begann sie, und sie sah in der fast völligen Dunkelheit der Nacht, wie er ihr schnell den Kopf zuwandte. »Die Befreiung Lorkins ist nicht unsere einzige Aufgabe. Es gibt da noch etwas.«
Er zögerte und sagte dann: »Das habe ich mir schon gedacht. Also. Was ist das für eine andere Aufgabe?«
»Wir sollen uns mit den Verrätern treffen. Sie wollen über die Möglichkeit eines Bündnisses und die Möglichkeit von Handel zwischen unseren Völkern sprechen.«
Über dem Geklapper der Kutsche hörte sie ihn ausatmen.
»Ah.«
»Der Fahrer wird in ein oder zwei Stunden anhalten. Wir werden aussteigen und von dort aus zu Fuß weitergehen, von der Straße aus in nördlicher Richtung. Die Verräter haben mir Anweisungen gegeben, wohin wir uns wenden sollen. In einigen Tagen werden sie sich mit uns treffen, und Lorkin wird bei ihnen sein.«
»Ihr habt bis zum letzten Augenblick gewartet, um mir das zu sagen.«
»Ja, und ich hätte noch länger gewartet, wenn das möglich gewesen wäre. Ihr durftet es nicht früher erfahren, für den Fall, dass König Amakiras Männer uns aufgelauert und Eure Gedanken gelesen hätten.«
»Und Eure Gedanken?«
»Sind geschützt.«
Sie wartete darauf, dass er fragte, wieso, aber die Frage kam nicht. Er sagte überhaupt nichts. Die Stille im Wagen fühlte sich ein wenig vorwurfsvoll an.
»Es ist nicht so, dass wir – die Gilde – Euch die Information nicht hätten anvertrauen wollen«, begann sie. »Wir …«
»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Es spielt keine Rolle.« Er seufzte. »Nun, eines spielt durchaus eine Rolle. Vertraut Ihr mir?«
Sie hielt inne, nicht sicher, wie sie den Tonfall in seiner Stimme deuten sollte. Er war nicht anklagend, aber bestimmt. Wenn sie eine Antwort vermied, würde das zu einer unnötigen Anspannung zwischen ihnen führen.
»Ja«, erklärte sie und spürte, dass ihre Worte die Wahrheit waren. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass er sie ein wenig in die Enge getrieben hatte, und es war nur gerecht, wenn sie ihrerseits das Gleiche tat. »Vertraut Ihr mir?«
Wieder hörte sie ihn ausatmen, aber langsamer diesmal.
»Nicht ganz«, gestand er. »Nicht weil ich Euch nicht für vertrauenswürdig halte, aber … ich weiß, dass Ihr mich nicht mögt.«
Soneas Herz setzte einen Schlag aus. »Das ist nicht wahr«, versicherte sie ihm schnell, bevor alte Erinnerungen aufsteigen konnten. »Ich habe Euch nicht immer gemocht. Ihr wisst, warum. Wir müssen das nicht noch einmal besprechen. Das gehört der Vergangenheit an.«
Er schwieg für kurze Zeit. »Ich entschuldige mich. Ich hätte es nicht wieder zur Sprache bringen sollen. Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass Ihr mir verziehen habt oder mich sogar mögen könntet.«
»Nun … ich habe Euch verziehen. Und ich mag Euch. Ihr seid … ein guter Mensch.«
»Ihr habt mich zu diesem Menschen gemacht.« Sein Tonfall war jetzt wärmer. »An jenem Tag, während der Invasion.«
Sonea hielt den Atem an, als eine Welle der Traurigkeit über ihr zusammenschlug. Und ein anderer guter Mensch ist an diesem Tag gestorben. Plötzlich konnte sie nicht sprechen, und Grauen stieg in ihr auf – nicht zum ersten Mal – angesichts der Erinnerungen, von denen sie wusste, dass sie zurückkehren würden, wenn sie in der Dunkelheit über den nackten Fels der Berge stieg. Aber mit einem anderen Begleiter. Einem anderen Mann.
»Stimmt etwas nicht?«
Sie blinzelte überrascht. Wie kam es, dass er überhaupt wusste, dass sie aufgewühlt war? Dann wurde ihr klar, dass die Felswand auf der einen Seite der Kutsche fort war und das schwache Licht einer Mondsichel in den Wagen fiel. Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus, während sie all ihre Selbstbeherrschung sammelte.
»Wir haben uns beide an jenem Tag verändert. Ihr zum Besseren, ich zum Schlechteren.«
»Nur ein Narr würde das von Euch denken«, erwiderte er, weil er sie missverstand. »Ihr habt uns und die Gilde gerettet. Ich habe Euch seither immer bewundert.«
Sie sah ihn an, aber sein Gesicht lag größtenteils im Schatten verborgen. Wie konnte er die Verbitterung und Selbstverachtung verstehen, die nach Akkarins Tod gekommen waren? Ganz gleich, wie sehr mein Verstand weiß, dass es nicht meine Schuld war, mein Herz hat es nie ganz geglaubt.
Das Mondlicht erreichte sein Gesicht und offenbarte einen Ausdruck, den sie bisher nur selten gesehen hatte. In seiner Stimme hatte der Anflug eines Lächelns gelegen, wurde ihr jetzt klar. Was hatte er gesagt? »Ich habe Euch seither immer bewundert.«
Sie wandte den Blick ab. All sein Konkurrenzdenken und sein Hass auf sie und das, was sie repräsentierte, hatten sich in etwas verwandelt, das beinahe das vollkommene Gegenteil war. Und genauso unverdient. Aber es wäre unfreundlich und undankbar, das zu sagen. Ich ziehe Bewunderung jederzeit Misstrauen und Verachtung vor.