– Was ist los? Was macht dir zu schaffen?
Sie wirkte überrascht, dann lächelte sie und drückte seine Hand.
– Du weißt, wo wir hingehen?
– In die Berge. Um meine Mutter zu treffen. Ich nehme an, um über Handel oder ein Bündnis zu sprechen.
– Ja.
Sie sah ihn fragend an, und er hörte schwach ein paar Worte, die zu senden sie vielleicht nicht beabsichtigt hatte.
Was wird er dann tun?
Er runzelte die Stirn. Er zögerte es hinaus, sich die gleiche Frage zu stellen. Was würde er tun, sobald die Verhandlungen vorüber waren? Würde er mit seiner Mutter nach Kyralia zurückkehren? Bei Tyvara in Sachaka bleiben? Die Antwort war noch wichtiger, wenn es mit den Verhandlungen nicht gelang, irgendeine Art von Übereinkunft zwischen den Verbündeten Ländern und den Verrätern zu erzielen.
Die Gilde würde wollen, dass er nach Hause kam. Seine Mutter würde wollen, dass er nach Hause kam. Aber das könnte bedeuten, dass er Tyvara nie wiedersehen würde.
Was will er?, kam Tyvaras schlecht verborgener Gedanke.
– Ich will mit dir zusammen sein, antwortete er ihr.
Sie blinzelte überrascht und starrte ihn an. Er spürte Verwirrung und ein wenig Verlegenheit. Ihr Griff lockerte sich, als wollte sie sich zurückziehen. Dann wurde er wieder fester.
– Wird die Gilde dir erlauben, bei uns zu bleiben?
– Es wird ihnen nicht gefallen, aber sie werden es akzeptieren müssen.
Sie nickte, schaute weg und entzog ihm die Hand. Er konzentrierte sich auf sie und versuchte, ihre Miene zu deuten, und wieder hörte er ganz am Rande seiner Sinne Worte.
Er wird seine Meinung ändern, sobald er erfährt, dass wir im Begriff stehen, in den Krieg zu ziehen.
Lorkin spürte, wie seine Muskeln vor Schreck erstarrten. Er schüttelte den Kopf. Er musste es sich eingebildet haben. Es war nicht möglich, die Gedanken eines anderen zu hören, ohne ihn zu berühren. Es sei denn, diese Person hätte den Gedanken absichtlich geschickt. Als er sich umschaute, sah er, dass keiner der anderen Verräter erschrocken wirkte oder ihn beobachtete, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sie gewusst hätten, dass Tyvara ihm ihre Pläne offenbart hatte.
Nein, ich muss es mir eingebildet haben. Er hatte im Sanktuarium Hinweise darauf bemerkt, dass die Verräter vielleicht planten, die Ashaki anzugreifen. Sein Geist deutete lediglich auf unerwartete Weise an, dass ein Krieg ihm seine Entscheidung erheblich erschweren würde. Tyvara musste sich fragen, ob er es vermeiden wollte, in einen Krieg verwickelt zu werden. Natürlich würde er das. Menschen starben in Kriegen. Tyvara könnte sterben. Es sei denn … könnte ich einen Grund finden, sie mit mir nach Kyralia zu nehmen? Vielleicht könnte ich Savara davon überzeugen, dass die Verbündeten Länder einen Verräter-Botschafter brauchen. Aber würde Tyvara gehen? Ich bezweifle es.
Also musste er jetzt überlegen, ob er bei Tyvara bleiben oder nach Kyralia gehen würde, um seine Kenntnisse der Herstellung von Steinen weiterzugeben, wie er seiner Mutter beibringen sollte, dass er schwarze Magie erlernt hatte, ob er Tyvara von der vergifteten Sklavin erzählen sollte und was er tun würde, wenn die Verräterinnen in den Krieg zogen. Glücklicherweise musste er noch stundenlang durch das Ödland zu den Bergen trotten. Jede Menge Zeit zum Nachdenken.
Obwohl der Frühling noch jung war, öffneten sich an den Bäumen innerhalb der Gärten der Gilde bereits Knospen, und der Duft deutete das Kommen wärmerer Tage an. Lilia atmete ihn ein und genoss einen kurzen Augenblick des Friedens und sommerlichen Versprechens. Sie lebte und war nicht im Gefängnis, die Gilde akzeptierte sie, und Cery, Gol und Anyi waren immer noch sicher und unentdeckt.
Natürlich konnte der Augenblick nicht lange währen. Ihre Freunde waren nicht vollkommen sicher, die Akzeptanz der Gilde an Bedingungen geknüpft, die ihr für den Rest ihres Lebens Einschränkungen auferlegten, und sie war auf dem Weg zu einer weiteren Lektion bei Schwarzmagier Kallen. Aber ihre Stimmung verdüsterte sich früher als gewöhnlich, als sie ein Trio von Novizen draußen vor dem Novizenquartier stehen sah; die drei beobachteten sie. Einer von ihnen war Bokkin.
Sie bedachte die drei mit dem flüchtigsten aller Blicke, aber obwohl sie auf den Pfad vor sich schaute, beobachtete sie aus dem Augenwinkel ihre Schatten. Obendrein zog sie einen schwachen Schild gegen jedwede Streiche hoch.
Nichts geschah, obwohl sie so sehr auf Ärger gefasst war, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass keine anderen Novizen mit Kallen an der Arena warteten. Er zeigte immer das gleiche leicht geistesabwesende Stirnrunzeln, doch jetzt war es tiefer als gewöhnlich. Und sein Blick war eine Spur wachsamer.
»Schwarzmagier Kallen«, begrüßte sie ihn und verbeugte sich, als sie ihn erreichte.
»Lady Lilia«, erwiderte Kallen. »Die heutige Lektion wird in der Universität abgehalten werden.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie musste den Drang zu jubeln unterdrücken.
»Also … kein Kampftraining heute?«
»Nein.«
Er bedeutete ihr, dass sie neben ihm hergehen sollte, und sie schlugen den Weg zur Universität ein. Bokkin war, wie sie voller Erleichterung sah, verschwunden. Sie zog in Erwägung, Kallen zu fragen, was sie lernen würde, aber die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass sie, wenn er nicht freiwillig Informationen beisteuerte, wahrscheinlich keine nützlichen Antworten bekommen würde. Sobald sie in der Universität waren, hörte sie ihn tief durchatmen und dann seufzen. Mit einem verstohlenen Blick bemerkte sie, dass sein Mund zu einer dünnen Linie verzogen war.
Er ist über irgendetwas gar nicht glücklich, dachte sie. Nun, jedenfalls ist er noch unglücklicher als gewöhnlich.
Er führte sie durch die inneren Gänge des Gebäudes und in einen der kleinen Räume, die für private Unterrichtsstunden reserviert waren. Nachdem er ihr ein Zeichen gegeben hatte, dass sie sich auf einen der beiden Stühle setzen sollte, nahm er auf dem anderen Platz und schaute sie über den einzigen Tisch im Raum hinweg an.
»Die Gilde ist zu dem Schluss gekommen, dass es Zeit für Euch wird zu lernen, wie man schwarze Magie benutzt.«
Ein Stich der Furcht und des schlechten Gewissens durchzuckte sie, aber die Regung wich schnell Erheiterung. »Aber ich weiß bereits, wie man schwarze Magie benutzt.«
»Ihr wisst, wie sie benutzt wird«, korrigierte er sie. »Abgesehen von Eurem einzigen Experiment habt Ihr sie bisher nicht bewusst und vorsätzlich benutzt, und Ihr brauchtet nie Macht zu lagern. Es gibt auch andere Aufgaben, die ein Schwarzmagier erfüllen muss und bei denen es nicht um den Erwerb von Magie geht.«
»Wie zum Beispiel?«
»Das Lesen von Gedanken. Die Herstellung von Blutringen.«
Lilias Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte angenommen, dass sie beide Fähigkeiten erst erlernen würde, wenn sie ihren Abschluss gemacht und ihre offizielle Rolle als Schwarzmagierin übernommen hatte.
»Warum jetzt?«
Kallen zog die Brauen noch tiefer herab. »Während Sonea abwesend ist, wäre es vielen von uns lieber, man würde Euch lehren, schwarze Magie zu benutzen, als dass wir nur einen voll ausgebildeten Schwarzmagier in Imardin haben.«
Kein Wunder, dass er mürrisch ist. Die Andeutung, die dahintersteht, ist die, dass er überwacht werden muss. Dass man ihm nicht trauen kann. Ein leichtes Triumphgefühl stieg in ihr auf, weil er dem gleichen Argwohn und Misstrauen ausgesetzt war wie sie. Obwohl die Leute mir misstrauen, weil ich eine Regel gebrochen habe, als ich schwarze Magie erlernt habe, obwohl ich dachte, ich könnte keinen Erfolg haben. Aber ich nehme an, sie misstrauen Kallen, weil er ein Feuel-Süchtiger ist. Ihr Triumph verblasste. An seine Stelle trat Mitgefühl. Und er hat wahrscheinlich auch nicht damit gerechnet, dass das passieren würde.