Sie nickte. »Also … was zuerst?«
Er richtete sich auf und nahm etwas aus seiner Robe. Licht spiegelte sich auf der polierten Oberfläche eines kleinen, schmalen Messers. Kallen hob die andere Hand, so dass der Ärmel zurückfiel, dann legte er den Arm auf den Tisch. Er sah sie an.
»Ich werde mich schneiden. Legt die Hand auf die Wunde, und versucht, Euch daran zu erinnern, was Ihr damals mit … Nehmt genug, um zu spüren, dass Eure eigene Kraft größer geworden ist.«
… mit Naki getan habt. Sie drängte die Erinnerung an eine Bibliothek und die Worte beiseite, die sie dazu verführt hatten, das Verbotene zu erlernen. »Ich würde alles für dich tun.« Kallen strich mit der Klinge über die Rückseite seines Arms. Sie legte gehorsam die Hand über die flache Schnittwunde und schloss die Augen.
Der Trick bestand darin zu sehen, dass meine eigene Magie von der Barriere meiner Haut zurückgehalten wird, rief sie sich ins Gedächtnis. Die Erinnerung stellte sich langsam ein, doch dann wurde das Gefühl von Magie innerhalb ihres Körpers plötzlich sehr deutlich. Sie hielt inne, um ein wenig darüber zu staunen, wurde dann aber durch eine Andersartigkeit in der Nähe abgelenkt. Sie konzentrierte sich auf ihre Hand, nahm Kallens Anwesenheit wahr und sah die Bresche in seiner Verteidigung.
Sie zögerte. Es erschien ihr anmaßend, Magie von Kallen zu nehmen, den sie während des größten Teils ihres Lebens halb gefürchtet hatte und der einer der Höheren Magier war. Aber er hatte sie dazu aufgefordert, daher nahm sie ihre Willenskraft zusammen und sog.
Magie flutete in ihren Körper. Sofort verlangsamte sie den Sog. Er würde es spüren können, vermutete sie, und wissen, wenn sie es übertrieb. Er hatte gesagt, sie solle Magie nehmen, bis sie spüren konnte, dass sie ihre eigene Stärke mehrte. Als sie sich konzentrierte, wurde ihr bewusst, dass sie bereits eine größere Stärke in sich spürte. Sie brachte den Strom magischer Macht zum Erliegen, öffnete die Augen und zog die Hand zurück.
Kallen sah sie eindringlich an. »Nehmt mehr.«
Diesmal war sie sich der Bresche in seiner Barriere sofort bewusst, und sie stellte fest, dass sie sich der Grenzen ihrer eigenen Magie dazu nicht bewusst zu sein brauchte. Sie vergaß, die Augen zu schließen, und begriff, dass es gar nicht nötig war. Kallens Gesicht war seltsam schlaff geworden, bemerkte sie. Er sah traurig und müde aus.
Als sie aufhörte, trat wieder ein Ausdruck in seine Züge. Er sah sie an, und diesmal nickte er.
»Gut. Ich kann spüren, dass Ihr jetzt Magie lagert.« Seine Lippen verzogen sich in grimmiger Anerkennung. »Wann immer wir mehr Magie in uns tragen, als wir von Natur aus besitzen, entweicht ein wenig davon unserer Barriere. Konzentriert Euch auf die natürliche Grenze Eurer Haut, bis Ihr dieses Leck spürt, dann sendet ein wenig Magie aus, um Eure Barriere zu verstärken.«
Diesmal schloss sie die Augen. Sie zog ihre Aufmerksamkeit nach innen und bemerkte, dass sie spüren konnte, dass ihre Macht sich verstärkt hatte. Sie konzentrierte sich auf die Barriere ihrer Haut, die die Grenze ihrer Kontrolle darstellte. Und tatsächlich, Magie sickerte durch sie hindurch, an manchen Stellen mehr als an anderen.
Sie setzte ihre Willenskraft ein, zapfte ein wenig von ihrer Magie an und sandte ein stetiges Rinnsal davon aus, um die Barriere zu verhärten. Sofort war das Leck gestopft.
Als sie die Augen öffnete, nickte Kallen.
»Ich kann es nicht länger spüren.« Er lächelte beinahe. »Es ist jetzt auch möglich, dass ein dritter Magier Euer Nehmen von Magie spüren kann. Dies ist ein ähnliches Problem, das aber an der Wunde in Erscheinung tritt. Ihr müsst Eure Barriere ein wenig ausdehnen, damit sie die des, äh, Spenders von Magie überlappt.«
Seinen Anweisungen folgend gelang es Lilia, diese Lektion nach wenigen Versuchen zu bewältigen. Danach ließ Kallen sie versuchen, Magie so langsam zu nehmen, dass sie es kaum bemerkte, dann so schnell sie konnte. Er konnte bei der ersten Übung stockend mit ihr sprechen, hatte aber während der zweiten offensichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten.
»Ihr solltet auch die schwächende Wirkung kennenlernen, die das Geben von Magie für den Spender hat. Schwarzmagierin Sonea ist während des Kampfes mit den Ichani geschnitten worden, weil sie nicht um die Schwächung durch schwarze Magie wusste. Es ist etwas, das Ihr gewiss nicht wieder erleben wollt, sobald Ihr es einmal gespürt habt.« Er machte eine Handbewegung. »Aber das kann bis zu einer anderen Lektion warten.«
»Ich erinnere mich an etwas in der Art, von damals, als Naki es an mir ausprobiert hat«, sagte Lilia. »Sie meinte, es hätte nicht funktioniert, aber ich denke, sie hat gelogen.«
Kallens Miene verdüsterte sich, aber dann verzog er mitfühlend die Lippen. »In Beschreibungen des Rituals Höherer Magie zwischen Magiern und Novizen alter Zeiten knieten die Novizen vor ihren Meistern nieder. Sie müssen in der Lage gewesen sein, sich aufrecht zu halten. Vielleicht sind die Novizen immun gegen die schwächende Wirkung geworden.«
»Oder die Meister wussten, wie man Macht nimmt, ohne ihr Gegenüber zu schwächen.«
Er nickte. »Wenn Ihr dazu bereit seid, könnten wir experimentieren. Es gibt vieles an schwarzer Magie, was wir nicht verstehen, und ich fürchte, dass unsere Gegenstücke in Sachaka das gegen uns benutzen könnten.«
Lilia unterdrückte einen Schauder des Widerstrebens. Obwohl Experimente in schwarzer Magie mit Kallen nicht nach Spaß klangen, musste sie ihm zustimmen, dass die Gilde darauf bedacht sein sollte, ihre Wissenslücken nach bestem Vermögen zu füllen.
Kallen strich mit der Hand über die Schnittwunde, die sich jetzt zu einer rosigen Linie geschlossen hatte. »Natürlich werdet Ihr auf diese Weise nur Magie von Nichtmagiern oder von einem feindlichen Magier nehmen. Eine normale Übertragung von Macht lässt sich bewältigen, ohne die Haut aufzuschneiden. Der schwächende Effekt ist außerdem ein weiterer Vorteil in der Schlacht. Ich kann mir nicht viele Situationen vorstellen, in denen es Sinn ergibt, jemandem mit Gewalt seine Magie zu nehmen, ohne ihn gleichzeitig zu schwächen.«
»Vielleicht … wenn Ihr Macht von einem alten Magier nehmen müsstet, der im Sterben liegt, der aber aus irgendeinem Grund – vielleicht weil er bewusstlos ist oder senil – Euch seine Macht nicht mehr willentlich anbieten kann.«
Kallen verzog das Gesicht. »Ja. Es wäre freundlicher, wenn er die Schwächung nicht erleben müsste.«
Sie betrachtete das Messer. »Was macht man, wenn man kein Messer hat? Könnte man Magie benutzen, um den Schnitt zu verursachen?«
Er schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ein Magier zu schwach ist, um sich mit einem Schild zu schützen, hat er doch noch genug Kraft, um die natürliche Barriere seiner Haut aufrechtzuerhalten. Diese Barriere ist nichts anderes als ein Schild gegen fremden Willen und muss aufgebrochen werden.«
»Wenn man Magie wie einen Dorn formte und gegen einen Gegner schleuderte, so dass dessen Haut durchstoßen würde – könnte das vielleicht funktionieren?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht. Ich schätze, wenn ein Hieb oder Schuss heftig genug ist …« Er runzelte die Stirn. »Es wäre schwierig zu prüfen. Das Opfer müsste bereit sein, verletzt zu werden, vielleicht ziemlich schwer … Andererseits, wenn man sich zunächst einiges Geschick aneignet, einen kurzen, heftigen Angriff zu führen, der nur eine kleine Verletzung hervorruft, wäre das auch nicht schlimmer als ein kleiner Schnitt. Es ist eine interessante Idee. Wir sollten ihr nachgehen.«
Sie nickte, bevor die Vorstellung, ihm zu erlauben, sie zu stechen, ihre Befriedigung, auf eine Idee gekommen zu sein, die für ihn ganz neu war, wieder zunichtemachte.
»Nun … das wird für heute genügen«, sagte er. »Morgen werde ich Eure Ausbildung im Gedankenlesen beginnen. Wir werden einen Freiwilligen benötigen, an dem Ihr üben könnt. Sobald Ihr diese Fähigkeit erworben habt, werde ich Euch lehren, einen Blutstein zu machen.«