»Ich kann ihn morgen fragen – es sei denn, du willst, dass ich es heute Nacht tue.«
Anyi schüttelte den Kopf. »Morgen ist in Ordnung. Es wird einige Zeit brauchen, um Cery dazu zu überreden.«
»Was befürchtest du? Dass Skellin kommt, bevor die Gilde bereit ist zu helfen?«
Anyi runzelte die Stirn. »Dass Cery eine Dummheit begeht. Diese Falle, die er stellt … ich bin mir nicht sicher, ob er vorhat, auf Kallen zu warten, oder nicht.«
»Jetzt, da Kallen mich lehrt, mich zu stärken, denkt er doch nicht etwa, dass ich stark genug sei, um allein gegen Skellin zu kämpfen, oder?«
»Nein, das hat er erst heute Abend erfahren. Die Vorbereitungen hat er schon vorher in Gang gesetzt.«
Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Lilia. Wenn Anyi, die es frustrierte, unter der Erde festzusitzen, sich Sorgen machte, dass ihr Vater ungeduldig wurde, dann mussten die Dinge dort unten ziemlich übel stehen.
Sie zog Anyi in ihre Arme. »Ich werde mit ihm reden. Ich werde die Gilde davon überzeugen. Du überredest Cery. Und wenn einer von ihnen oder beide nicht vernünftig sein wollen, dann werden wir eben eine Möglichkeit finden müssen, sie zu überlisten.«
18
Entscheidungen
Der Nachthimmel war klar und der Mond hell. Cery stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Obwohl das Mondlicht die Wahrscheinlichkeit vergrößerte, dass jemand sie sah, wurde es dadurch auch einfacher für sie, sich im Wald zu orientieren. Weder er noch Gol oder Anyi waren es gewohnt, sich zwischen Bäumen und Pflanzen zu bewegen.
Obwohl Lilia sie mit den meisten Dingen versorgen konnte, die sie brauchten – dank Jonna –, konnte sie einige Sachen nicht beschaffen. Sie waren bereits zwei Mal auf den Bauernhof zurückgekehrt, um weitere Stühle zu holen, außerdem Sackleinen und Stroh, um Matratzen zu machen. Heute Nacht waren sie auf andere praktische Dinge aus.
»Einen Eimer oder Zuber und weitere Säcke. Sonst nichts?«, fragte Anyi.
»Nein«, antwortete Cery. »Such nicht nach weiteren Dingen, die du mitnehmen kannst, nur weil du gerade dort bist.«
»Natürlich nicht.«
Als sie in den Wald schlüpfte und verschwand, drehte Cery sich zu Gol um. »Sei vorsichtig. Versuch nichts anderes zu tun.«
Gol nickte. Cery beobachtete, wie sein Freund in die andere Richtung davonstolperte, dann zuckte er zusammen, als das Knacken eines Zweiges durch den Wald hallte. Wenn Anyi ihn hört … nun, er kann ihr die Geschichte auftischen, die ich ihr erzählen werde, wenn sie zurückkommt und feststellt, dass er nicht mehr da ist: dass er nach der besten Möglichkeit sucht, Verfolger abzuschütteln, falls wir auf diese Weise entkommen müssen.
Cery zog sich in das Loch zurück, griff nach seiner Lampe und ging wieder den Tunnel hinunter. Anyi hatte darauf bestanden, dass nur einer von ihnen das Risiko auf sich nehmen musste, sich auf den Bauernhof zu schleichen. Er hatte ihr zugestimmt, aber nur weil er sich einen Überblick über die Experimente der Gilde mit Feuel verschaffen wollte.
Es sei denn, sie haben sie an einen anderen Ort gebracht, nachdem Lilia ihnen gesagt hat, dass sie davon weiß.
Er fand die überhängenden Wurzeln und schob sie beiseite. Als er den Tunnel betrat, bemühte er sich um Geräuschlosigkeit, während er sich der geheimen Kellertür näherte. Alles wirkte genauso, wie sie es zurückgelassen hatten. Er bückte sich zu dem Guckloch und sah bloß Dunkelheit. Für einen Moment konnte er die Vorstellung nicht abschütteln, dass ein dunkles Tuch das Guckloch bedeckte und es nur so aussehen ließ, als sei der Raum unbeleuchtet. Er presste das Ohr an die Tür und lauschte eine Zeitlang. Alles war still.
Er blendete seine Lampe ab, bis nur ein kleiner Lichtstrahl nach draußen drang. Langsam drückte er die Tür auf. Modrige Luft begrüßte ihn, und das Geräusch, das er verursachte, hallte in dem Raum wider. Er öffnete die Blende der Lampe ein wenig und stellte fest, dass sich niemand sonst in dem Raum befand. Dieselben Tische standen an denselben Stellen wie zuvor. Cery trat ein und ging zu ihnen hinüber. Sie waren bedeckt mit kleinen Behältern. Weniger als halb so viele wie zuvor, bemerkte er. Ein Stapel zerbrochener Töpfe und Erde waren zu einem Haufen auf einer Seite zusammengekehrt worden. Einige der Töpfe sahen verbrannt aus. Als er genauer hinschaute, bemerkte er, dass die Töpfe auf dem Tisch auf einer Seite versengt waren – genau wie der Tisch selbst. Er runzelte die Stirn und trat näher. Die Töpfe enthielten nur Dreck.
Oder sind sie …? Er beugte sich weiter vor. Winzige Setzlinge ragten aus der Erde.
Cery lächelte. Wachst schnell, kleine Pflanzen, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal über Feuel denken würde.
Nachdem er zu dem geheimen Eingang zurückgekehrt war, trat er wieder in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Er ging durch das Hauptnetzwerk der Flure, aber statt in den Raum zurückzukehren, in dem sie jetzt lebten, überzeugte er sich davon, dass Lilias Schild noch immer den Gang blockierte, der zur Straße der Diebe führte.
Als er in ihr neues Quartier zurückkam, war genug Zeit verstrichen, dass Anyi bereits hätte zurück sein können. Aber sie war nicht da. Er setzte sich hin, um auf sie zu warten. Schon bald stieg Angst in ihm auf. Es war schwierig, hier das Verstreichen der Zeit zu messen. Zu leicht, sich vorzustellen, dass Stunden vergangen waren. Zu leicht, sich vorzustellen, dass seiner Tochter etwas zugestoßen war.
Wenn sie ertappt wird, werden es wahrscheinlich Diener des Bauernhofs oder Magier sein. Keiner von ihnen wird ihr etwas antun.
Eine alte Erinnerung an eine viel jüngere Sonea stieg in ihm auf; sie stand auf einem Stadtplatz und starrte auf den verbrannten Körper eines jungen Mannes hinab. Magier konnten Fehler machen.
Sie haben nur so gehandelt, weil sie dachten, sie würden angegriffen. Anyi ist eine einzelne junge Frau, und im Gegensatz zu Sonea verfügt sie nicht über Magie.
Dennoch schlug sein Herz zu schnell und bereitete ihm Schmerzen.
Anyi ist klug, sagte er sich. Sie wird sich nicht schnappen lassen.
Aber wenn es doch geschah, würde sie nicht offenbaren wollen, dass er hier war. Sie würden sie aus der Gilde werfen. In die Stadt. Wo Skellin wartete.
Hör auf damit, befahl er sich und rieb sich die Brust. Es hat keinen Sinn, sich um etwas zu sorgen, bevor …
Von irgendwo außerhalb des Raums erklang ein Geräusch. Das Blut gefror ihm in den Adern. Er hielt den Atem an und lauschte. Nichts mehr. Dann, gerade als er glaubte, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben, erreichte ihn ein ganz schwaches Wispern. Er stand auf, davon überzeugt, dass sich jemand dem Raum näherte, der sich große Mühe gab, nicht entdeckt zu werden. War Gol geschnappt worden, sobald er in der Stadt aufgetaucht war? Hatte Skellin ihm mit Folter bereits Cerys Aufenthaltsort entlockt?
Er sah sich um. Wir sind noch nicht einmal dazu gekommen, die Falle aufzubauen. Was soll ich tun? Er drehte sich zu dem Loch um, das in den nächsten Raum führte. Ihr Fluchtweg.
Dann hallte ein fünfmaliges Klopfen durch den Flur. Das Signal! Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und vergaß beinahe, zur Antwort auf eine Kiste zu klopfen. Schritte kamen näher, und Licht erhellte die Flurwand; es bewegte sich auf eine Art und Weise, die auf Anyi schließen ließ. Sie spähte um die Tür herum und grinste, dann kam sie mit zwei Eimern herein.
»Wo ist Gol?«, fragte sie, als sie sie abstellte.
»Auf Erkundung im Wald, für den Fall, dass wir auf diesem Weg entkommen müssen. Was ist das?« Er schaute in die Eimer, in denen mehr als nur Sackleinen war.