Kallen ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen, und die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Die Novizen verneigten sich. Seine Augen wurden schmal.
»Lady Lilia«, sagte er. »Wir brauchen nur einen Freiwilligen.« Er betrachtete die Gesichter. »Welcher von Euch hätte gern die Ehre?« Bokkins Anhänger drehten sich um und sahen ihn stirnrunzelnd an. Kallen folgte ihrem Blick und nickte. »Ihr werdet genügen, Lord Bokkin. Folgt mir.«
Die Novizen drückten sich an die Wand, als er vorbeiging. Da Lilia nicht mit Bokkin hinter Kallen hertrotten wollte, drehte sie sich um und ging voran zu dem kleinen Raum, den Kallen für ihre Ausbildung benutzte. Als sie die Tür erreichte, wandte sie sich wieder um und erwartete zu sehen, dass Bokkin geflohen war.
Aber der Junge war ihnen gehorsam gefolgt. Er war blass und runzelte die Stirn. Er macht sich Sorgen, dachte sie und unterdrückte ein Lächeln. Das täte ich auch. Was um alles in der Welt will Kallen von ihm?
Kallen öffnete die Tür und führte Bokkin hindurch. Lilia folgte ihnen. Kallen deutete auf einen Stuhl. Bokkin setzte sich, den Blick gesenkt.
»Danke, dass Ihr Euch freiwillig gemeldet habt«, sagte Kallen und setzte sich auf den anderen Stuhl. »Lilia hat Euch erklärt, dass es nicht schmerzhaft sein wird?«
»Nnn…«, begann Bokkin, dessen Augen sich jetzt weiteten.
»Noch nicht«, warf Lilia ein. »Ich hatte keine Zeit, viel zu erklären.«
Kallen musterte sie. Obwohl eine Falte der Missbilligung zwischen seinen Brauen stand, fing sie in seinem Blick noch ein Glitzern von etwas anderem auf. Was führt er im Schilde?
Er wandte sich wieder dem jungen Mann zu. »Tatsächlich kann die Person, wenn es richtig gemacht wird, überhaupt nicht spüren, dass ihre Gedanken gelesen werden.« Bokkins Augen wurden sehr groß, aber Kallen schien es nicht zu bemerken. »Nun, ich bin ein wenig zu spät gekommen und will Euer Erscheinen in Eurem ersten Kurs nicht verzögern, daher sollten wir am besten anfangen.« Er gab Lilia ein Zeichen. »Tretet hinter ihn.«
Sie war dankbar, dass er ihr einen Grund gegeben hatte, aus Bokkins Blickfeld zu verschwinden, da sie bezweifelte, dass sie einem Lächeln noch sehr lange würde widerstehen können. Während sie gehorchte, versuchte Bokkin, sich umzudrehen, um sie anzusehen.
»Das war nicht … ich habe nicht …«
Kallen beugte sich vor und bedachte Bokkin mit einem herausfordernden Blick. »Ihr habt Eure Meinung geändert, wie? Ich schätze, wir können immer noch bekanntgeben, dass wir jemand anderen brauchen.«
Bokkin erstarrte. Lilia konnte sich vorstellen, wie er die verschiedenen Möglichkeiten abwog. Als Feigling zu gelten oder zuzulassen, dass einer der gefürchteten Schwarzmagier und Lilia seine Gedanken lasen. Zu ihrer Erheiterung blieb Bokkin, wo er war.
»Ihr werdet Euch nicht meine Erinnerungen ansehen?«, fragte er.
Kallen schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
Bokkin nickte. »Na gut.«
Kallen stand auf und nickte Lilia zu. »Ich werde mich mit Eurem Geist verbinden; Ihr verbindet Euch mit seinem.«
Mit einem tiefen Atemzug legte Lilia die Hände an Bokkins Kopf und begann, als sie spürte, wie Kallen die Hände an ihre Schläfen drückte, eine simple Übung, um ihren Geist zu konzentrieren.
– Lilia, sprach Kallen.
– Kallen.
Alles, was sie wahrnahm, waren seine Anwesenheit und seine Gedankenstimme. In anderen Lektionen, die eine Unterweisung von Geist zu Geist erforderten, hatte er es ihr ausgeredet, sich ihren Geist als einen Raum vorzustellen. Manchmal machte es die Lektionen schwieriger, aber es bedeutete auch, dass sie sich die Konzepte der schwarzen Magie eher intuitiv als bewusst aneignen konnte. Dadurch fühlte sich die Benutzung von Magie an wie das Bewegen eines Arms oder eines Beins – ebenso sehr reflexartig wie willentlich.
– Bokkin wird uns melden, wenn Ihr seine Erinnerungen durchsucht, aber ich bezweifle, dass er viel Kontrolle über seinen Geist hat. Er wird uns wahrscheinlich ohnehin zeigen, was er uns nicht sehen lassen will. Wenn Ihr wachsam bleibt, könnt Ihr gewiss etwas finden, das Ihr benutzen könnt, um ihn daran zu hindern, Euch weiter zu schikanieren.
Lilia konnte ihren Schreck nicht vor ihm verbergen.
– Aber … wir sollten diese Erinnerungen ignorieren!
– Ja. Aber die Gilde erlaubt durchaus eine gewisse Beugung der Regeln in außergewöhnlichen Fällen. Wir haben erfahren, dass es besser ist, dies zu tun und zu verhindern, dass Novizen schikaniert werden, als es zu ignorieren und das Risiko einzugehen, dass diese Novizen später Regeln und Gesetze brechen.
– Wegen Sonea?
– Und wegen Konflikten, die ihren Ursprung in der Öffnung der Gilde für Vertreter der unteren Klassen haben.
– Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dazu überwinden könnte, etwas sehr Privates zu benutzen …
– Ihr werdet es vielleicht nicht zu tun brauchen. Die Drohung, dass Ihr es tun könntet, wird möglicherweise genügen, um ihn abzuschrecken.
– Ich hoffe es.
– Jetzt konzentriert Euch auf Bokkins Geist. Spürt seinen instinktiven Widerstand gegen eine Gedankenlesung.
Sie tat wie geheißen und spürte ein Aufwallen von Triumph von Bokkin, als sie scheiterte.
– Jetzt schaut zu …
Kallens Gegenwart dehnte sich aus und wurde schwächer, wie ein Lichtstrahl, der durch ein Fenster fiel. Bokkins Geist spürte keine konzentrierte Anstrengung, in ihn einzudringen, und kämpfte daher auch nicht dagegen an. Einen Moment später schärfte sich Kallens Gegenwart wieder.
– Jetzt Ihr. Befreit Euren Geist von allem außer dieser einen Absicht: in seinen Geist zu wehen wie Rauch.
Rauch oder Licht, es schien durchaus einfach zu sein, aber Lilia brauchte einige Versuche, bevor Bokkins Geist sie nicht länger wahrnahm. Er musste gespürt haben, dass sich etwas in ihrem Benehmen verändert hatte, denn als es ihr tatsächlich gelang, in seinen Geist einzudringen, machte er sich Sorgen, dass sie Erfolg haben könnte.
Es ist nicht richtig, dachte er. Sie hat ein Gesetz gebrochen. Sie sollte diese Dinge nicht lernen dürfen.
Eine Erinnerung stieg auf. Ein Gesicht. Lilia wusste instinktiv, dass es Bokkins Vater war. »Irgendjemand wird immer stärker sein als du – wenn du es zulässt. Du musst dich um diese Leute kümmern, solange sie noch schwach sind. Verhindere, dass sie stark werden.« Bokkin riss sich zusammen und zwang sich aufzuhören, sich daran zu erinnern, aber nicht, bevor Lilia drei schnelle Blitze von emotionsgeladenen Bildern auffing. Liebe und Kränkung. Prügel. Zorn. Trauer.
Da verstand sie, dass Bokkin dies grimmig und restlos glaubte und es für den besten, weisesten Rat hielt, den sein Vater ihm je gegeben hatte. Schließlich hatte sein Vater es bewiesen, indem er seinen eigenen Sohn so lange geprügelt hatte, bis er ihm gehorchte und ihn fürchtete. Dann war sein Vater von einem Mann getötet worden, von dem er zugegeben hatte, dass er hätte härter zu ihm sein sollen.
Das ist es, was er versucht, mit mir zu machen, begriff sie. Er denkt an die Zukunft. Ich werde stärker sein als er, also versucht er, mich jetzt zu schwächen. Sie schauderte bei dem Gedanken an die Art Magier, die er werden würde. Bis dahin wird er stärker sein als die meisten anderen Menschen. Nur andere Magier werden eine Bedrohung für ihn darstellen. Magier wie ich.
– Lilia? Kallen sprach.
Sie zog sich aus Bokkins Geist zurück.
– Ja?
– Ihr habt Eure Sache gut gemacht. Das reicht für den Moment.
Sie spürte, wie er die Hände von ihrem Kopf nahm, daher öffnete sie die Augen und ließ Bokkin los. Kallen ging zu dem Stuhl hinüber und setzte sich. Die Tür hinter ihm wurde geöffnet.