»Ihr könnt jetzt gehen, Lord Bokkin. Danke für Eure Hilfe. Sagt den anderen, dass sie morgen früh hier sein sollen, zur gleichen Zeit.«
»Ja, Schwarzmagier Kallen.« Bokkin verneigte sich und eilte aus dem Raum.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Lilia lehnte sich an die Rückenlehne ihres Stuhls und zögerte den Moment hinaus, da sie sich setzen musste. Sie wollte nicht einmal die Restwärme von Bokkins Körper auf diesem Stuhl spüren.
»Was habt Ihr erfahren?«, fragte Kallen.
Lilia verzog das Gesicht. »Dass er jeden, der vielleicht stärker werden könnte als er, als Bedrohung erachtet, so dass er einen Weg finden muss, diese Person zu beherrschen, bevor sie ihn beherrscht.« Dann wurde ihr klar, dass Kallen wahrscheinlich nach der Gedankenlesung fragte. »Was das Gegenteil davon ist, wie das Gedankenlesen funktioniert. Man hat keinen Erfolg, wenn man versucht, den anderen zu beherrschen.«
Kallen nickte. »Ja.« Er schüttelte den Kopf. »Magier wie Bokkin sind der Grund, warum wir die Gedankenlesung auf diesem Niveau nicht allen Magiern beibringen.«
»Moment … Ihr meint, jeder könne lernen, das zu tun?«
»Bedauerlicherweise ja. Der Hohe Lord Akkarin war der erste Gildemagier, der gelernt hat, die Gedanken einer widerstrebenden Person zu lesen, so dass immer angenommen wurde, es sei eine Fähigkeit, die schwarze Magie erforderlich mache. Er hat Schwarzmagierin Sonea offenbart, dass dies nicht wahr ist, indem er sie lehrte, Gedanken zu lesen, bevor er ihr beibrachte, wie man Magie nimmt und lagert. Sonea hat sich bereit erklärt, diese Tatsache für sich zu behalten. Ihr müsst das Gleiche tun.«
»Oh. Auf jeden Fall.« Bei dem Gedanken daran, was Bokkin mit solchem Wissen machen könnte, überlief Lilia ein Schauder.
»Ihr habt eine frische und interessante Herangehensweise an die Dinge, Lilia«, bemerkte Kallen. »Wie zum Beispiel Eure Idee, einen scharfen magischen Stoß als Ersatz für ein Messer zu benutzen, wenn man schwarze Magie übt. Das ist genial. Ich habe es Lady Vinara beschrieben, und wir haben Möglichkeiten erörtert, wie wir damit experimentieren könnten.«
Unter seinem Lob wurde ihr Gesicht warm, und sie senkte den Blick. »Nun … ich hoffe, es funktioniert.«
»Selbst wenn es nicht funktioniert, lohnt es einen Versuch. Nun, das ist alles für heute. Ihr solltet besser in Euren ersten Kurs gehen.«
Als die Tür sich abermals öffnete, verbeugte sich Lilia und murmelte seinen Namen. Sie ging zu ihrer ersten Unterrichtsstunde des Tages und fühlte sich abwechselnd aufgemuntert und besorgt. Ich lerne so viel von Kallen, und er scheint mich jetzt mehr zu mögen, da es bei unseren Lektionen nicht nur um Kriegskunsttraining geht.
Doch obwohl sie jetzt wusste, warum Bokkin ihr das Leben schwermachte, hatte sie keine Ahnung, wie sie ihn davon abhalten sollte. Er wird immer gegen mich arbeiten. Allerdings werde ich immer stärker sein als er, und er ist zu dumm, um mir auf andere Weise jemals gefährlich zu werden, daher könnte es wohl schlimmer sein.
Aber sie würde ihn ständig im Auge behalten müssen, und das würde sehr, sehr lästig sein.
Sobald Anyis Schritte nicht mehr zu hören waren, stand Gol auf und holte sein Werkzeug unter seiner Matratze hervor. Während er sich wieder an die Arbeit machte, untersuchte Cery die Löcher, die sein Freund zuvor in einen Teil der Wand gebohrt hatte; jedes Loch durchdrang Mörtel und die Erde dahinter. Anyi hatte sie nicht bemerkt. Die Ziegel waren an manchen Stellen rau und rissig, und Gol hatte Positionen gewählt, wo das Lampenlicht schwere Schatten warf.
Er musste sich vorbeugen, um das Ende der Rohre zu sehen, die Gol in jedes Loch geschoben hatte. Aus jedem von ihnen ragte eine kleine Zunge aus ölgetränktem Papier hervor.
»Wie viel mehr willst du noch machen?«, fragte Cery.
Gol war zur gegenüberliegenden Wand gegangen. »Das hängt davon ab, wie schnell du denkst, dass wir sie entzünden können. Die erste Ladung darf nicht losgehen, solange wir noch nicht alle anderen angezündet haben. Wenn ich fünf in jede Wand stecke und wir uns jeder um eine Wand kümmern, werden wir sie vielleicht alle entzünden können. Bring mir ein Rohr, ja?«
Cery ging zu der Obstkiste, die Lilia ihnen in der Nacht zuvor gebracht hatte, leerte sie und nahm das Sackleinen vom Boden der Schachtel. Er hatte darunter Minenfeuer gelagert und sich auf Anyis Abneigung gegen Obst verlassen, die sie daran hindern würde, das Minenfeuer zu entdecken.
Als er Gol das erste Rohr brachte, bemerkte er, dass ein feiner Strom Staub aus einer Papierfalte an einem Ende sickerte.
»Es ist zerbrochen. Ist das schlimm?«
Gol drehte sich um, und seine Augen weiteten sich. »Halt es so, dass das Loch oben ist«, sagte er angespannt.
Cery tat wie geheißen, und das Rieseln versiegte. »Ist das nicht gefährlich?«
»Doch, durchaus.« Gols Miene war ernst. »Wenn man zu viel davon in der Luft hat, könnte eine Kerze oder eine Lampe es losgehen lassen.« Er schaute auf das Rohr hinab, dann kippte er ein wenig Pulver auf seine Hand, bevor er es in die Wand stopfte. »Ich werde es dir zeigen. Stell eine Kerze ungefähr zwanzig Schritte entfernt in den Tunnel.«
Nicht mehr als eine Prise von dem Staub lag auf Gols Hand. Cery griff nach einer brennenden Kerze, brachte sie aus dem Raum und stellte sie im Flur auf den Boden. Gol winkte ihn heran, dann scheuchte er Cery hinter sich. »Du hältst dir besser die Ohren zu.«
Cery befolgte Gols Rat.
»Pass auf.« Er sammelte das Pulver zwischen zwei Fingern, eilte vorwärts und warf es in die Kerze. Ein Lichtblitz blendete Cery, und gleichzeitig hallte ein Geräusch, als schlüge eine sehr große Hand auf einen Tisch, durch den Flur. Staub und Dreck sickerten aus den Wänden in der Nähe der Kerze, die plötzlich viel kürzer war und in einer Pfütze von geschmolzenem Wachs stand.
Cery nahm die Hände von den Ohren. Das, nur von einer Prise. Und wir haben in diesen Rohren viel mehr.
»Bist du dir sicher, dass du so viele Rohre in die Wand legen willst?«
Gol zuckte die Achseln. »Irgendwohin muss ich sie ja legen. Es ist sicherer, wenn sie in der Wand sind, als in dem Raum mit uns.«
Natürlich. Selbst wenn wir es in der Früchtekiste lassen, könnte es losgehen, wenn der Rest losgeht. Besser, es brät das Innere einer Wand als uns. »Wie lange dauert es, bis die Zündstreifen abgebrannt sind?«
»Bis du bis zwanzig gezählt hast.« Gol holte die Kerze, gab sie Cery und ging zurück in den Raum. »Wenn wir nicht genug Zeit haben, kommen wir vielleicht damit aus, nur eine auf jeder Seite zu entzünden. Wenn sie losgeht, sollte sie die anderen mitreißen.«
»Also zünden wir jeder eine an, dann rennen wir weg.«
Gol runzelte die Stirn. »Ist das schon Anyi, die zurückkommt?«
Cery lauschte. Als er das schwache Geräusch von Schritten hörte, eilte er zu der Obstkiste und legte wieder das Sackleinen und Früchte über die Rohre, während Gol seine Bohrlöcher verbarg. Nur für den Fall, dass es nicht Anyi war, hielten sie ihre Kerzen fest. Einen Moment später hallte ein leiser Pfiff durch den Flur, und sie entspannten sich.
Cery pfiff zurück, und kurz darauf kam Anyi mit ihrer Lampe hereingeeilt. Er begriff, dass er angenommen hatte, dass sie noch weiter weg war, weil ihre Schritte so schwach gewesen waren. Als sie sie sah, stieß sie den Atem aus.
»In der Nähe von Lilias Barriere ist eine Wand eingestürzt. Oder sie wurde zerstört. Was immer der Grund ist, es gibt jetzt einen anderen Weg hierher, der ihre Barriere umgeht.«
Cerys Herz setzte einen Schlag aus. »Irgendwelche Spuren?«
Sie zog die Schultern hoch. »Ich konnte es nicht sehen. Ich habe die Lampe abgeblendet, damit sie das Licht nicht bemerken und direkt hierherkommen würden. Aber ich habe nichts gehört.«
Cery sah Gol an. Sein Leibwächter erwiderte seinen Blick, und sein Gesicht war voller Sorge.