»Ich denke, du solltest Lilia holen«, sagte Gol.
»Sie wird im Unterricht sein. Ich kann nicht einfach …«
»Geh in Soneas Zimmer«, unterbrach Cery sie entschieden. »Sag Jonna, sie soll Lilia holen.«
»Ihr solltet mitkommen. Euch in Soneas Zimmer verstecken.«
»Wenn wir irgendetwas hören, werden wir dir folgen«, erwiderte Cery. »Jetzt geh.«
Sie hielt inne, biss sich auf die Lippen, dann eilte sie davon. Gol wartete nicht einmal ab, bis ihre Schritte verklungen waren. Er sprang auf den Bohrmeißel zu und attackierte die Wand förmlich damit. Cery kippte die Früchte aus der Kiste und trug sie zu seinem Freund hinüber. Vier weitere Rohre mit Minenfeuer lagen darin. Gols Worte gingen ihm noch einmal durch den Sinn, während er die Ohren spitzte, in Erwartung irgendeines Geräuschs in den Korridoren.
Er war sich nicht sicher, ob sein Herz vor Erwartung oder Angst raste. Kam Skellin näher? Würden sie endlich Gelegenheit haben, ihre Falle zuschnappen zu lassen? Würde es ein großes Loch in den Gärten schaffen und den wilden Magier der Gilde ausliefern, wie sie es geplant hatten? Oder würde Skellin von der Explosion so überrascht sein, dass er ihr nichts mehr entgegensetzen konnte und starb?
Was immer geschieht, zumindest ist Anyi aus dem Weg. Ich habe nicht die Absicht, zusammen mit Skellin zu sterben, aber je weniger von uns dabei sind, desto geringer ist die Chance, dass einer von uns verletzt wird.
22
Ein alter Feind
Lorkin, der blinzelnd den dunklen Fleck auf der Straße vor sich musterte, konnte nicht viel mehr ausmachen als den Eindruck von Bewegungen. Sieht so aus wie eine Gruppe von Menschen zu Pferd. Er blickte Savara an. Die Königin konzentrierte sich ebenfalls auf die Straße, konnte also die Reiter nicht übersehen haben. Dennoch wirkte sie nicht besorgt.
Er drehte sich zu Tyvara um, die neben ihm ritt, bemerkte, dass sie ihr Gewicht im Sattel verlagerte und das Gesicht verzog. Als sie sah, dass er es beobachtet hatte, lächelte sie. »Es sind nur ein paar Stunden, und ich bin bereits wund.«
Ehemalige Sklaven hatten ihnen auf einem Gut, das sie an diesem Morgen befreit hatten, Pferde gegeben. »Befreien« bedeutete lediglich, hineinzumarschieren und die Besitzer, die Ashaki, hinzurichten und vielleicht weitere anwesende Magier. Häufig hatten die Männer, was den unmittelbar bevorstehenden Angriff betraf, nicht mehr Warnung als das plötzliche Verschwinden ihrer Sklaven. Obwohl sie alle kämpften, hatten die meisten offensichtlich nicht die Gewohnheit, ihren magischen Vorrat gut aufgefüllt zu halten. Warum sollten sie auch? Sie sind keine Ichani, die ständig von anderen Schwarzmagiern bedroht werden. Sie bevorraten sich wahrscheinlich nur dann mit Macht, wenn sie sie zu einem speziellen Zweck benötigen. Dadurch kam es ihm weniger wie eine Kriegshandlung vor, sie zu töten, sondern eher wie Mord.
Es fühlt sich so an, als würden wir in die Häuser dieser Menschen einbrechen und Ehemänner, Söhne und Väter töten, statt einen Krieg zu führen. Wenn wir ihnen auf dem Schlachtfeld gegenüberständen, würden wir trotzdem Ehemänner, Söhne und Väter töten, aber es würde gerechtfertigt erscheinen. Doch die Verräterinnen waren keine triumphierenden Sieger, die lässig oder rachsüchtig die Familien abschlachteten, plünderten und folterten. Wären sie es gewesen, hätte Lorkin seine Entscheidung vielleicht bereut, sich ihnen anzuschließen. Stattdessen waren sie barmherzig und effizient.
Aber auch gnadenlos.
Er dachte an den Edelstein, den seine Mutter ihm gegeben hatte.
Er rief sich ins Gedächtnis, dass sein Vater Zarala das Versprechen abgenommen hatte, der Sklaverei ein Ende zu machen. Sein Vater hatte gewollt, dass dies geschah. Wann immer Lorkin zweifelte oder den Mut verlor, betrachtete er die jüngst befreiten Sklaven und sagte sich, dass alles einem guten Zweck diente.
Er hatte erwartet, dass die Verräterinnen auf besser vorbereitete Ashaki treffen würden, sobald die Invasion begann, aber es war klar, dass jeder von dem Angriff überrascht war. Vielleicht waren die Ashaki, die sie zuvor getötet hatten, zu sehr mit ihrer eigenen Verteidigung beschäftigt gewesen, um anderen eine Warnung zu senden. Vielleicht verließen sie sich auf Sklaven, um Nachrichten zu übermitteln, aber die Sklaven, die die Verräterinnen unterstützten, stellten sicher, dass diejenigen, die ihren Herren treu waren, nicht fortgehen konnten, um andere zu warnen.
Irgendwann würde eine Warnung durchkommen, das wusste Lorkin. Irgendein Ashaki wird auf magische Weise seine Standesgenossen warnen – entweder durch einen Ruf an alle oder durch einen Blutring. Selbst wenn Savaras Gruppe es schaffte, jeden zu töten, bevor er die Chance dazu bekam, würden andere Gruppen vielleicht nicht so erfolgreich sein. Sobald die Nachricht den Verräterinnen vorauseilte, würde nichts verhindern, dass sie sich in der Stadt ausbreitete. Wenn sie das tat, würden die Verräterinnen nicht ein oder zwei Magier auf jedem Gut antreffen, sondern eine ganze Armee von ihnen. Und deshalb hatte sein Herzschlag sich beim Anblick des Schattens auf der Straße erheblich beschleunigt.
Er konzentrierte sich auf Tyvaras Geist und spürte vor allem eifrige Erwartung, daneben nur einen kleinen Stich der Sorge. Es sind keine weiteren Verräter gestorben, fing er auf. Aber es wird nicht lange dauern … Sie bemerkte, dass er sie stirnrunzelnd ansah, und lächelte.
»Keine Sorge. Es ist nur eine andere Gruppe. Auf dem Weg zur Stadt werden die Gruppen sich treffen und zusammenschließen.«
Erleichtert wandte er sich um, um zu beobachten, wie die anderen Verräter näher kamen. Schatten wurden zu Gestalten auf Pferden. Reiter wurden zu Frauen und Männern. Gesichter wurden erkennbar. Er hörte Tyvara in dem Augenblick fluchen, als er begriff, dass ein bestimmtes Gesicht ihm vertraut war.
»Was tut sie hier?«, murmelte er.
Tyvara seufzte. »Kalias Bestrafung ist für die Dauer der Invasion ausgesetzt worden«, berichtete sie ihm. »Genau wie meine. Es wäre bedauerlich, wenn wir verlieren würden, weil uns die Macht von zwei Magierinnen gefehlt hat.«
Er beobachtete, wie Kalia Savaras Gruppe betrachtete, dann wurde ihre Miene säuerlich, als sie ihn und Tyvara entdeckte.
»Wir stehen alle auf derselben Seite«, sagte Tyvara. »Aber ich wünschte doch, Kalia wäre einer Gruppe zugeteilt worden, die das gegenüberliegende Ende der Stadt angreift«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu.
Savara drehte sich um, um sie beide anzusehen. »Ich werde ein Auge auf sie halten. Und ein Ohr.« Sie schaute zu der näher kommenden Gruppe hinüber und drängte ihr Pferd vorwärts, um ihnen entgegenzureiten. Zu Lorkins Erleichterung war die Frau, die auf sie zukam, nicht Kalia. Es war Sprecherin Halana, die Anführerin der Steinmacher.
»Zumindest führt sie die Gruppe nicht an«, sagte er.
Tyvara kicherte. »So dumm sind wir nun auch wieder nicht.«
Halana legte kurz eine Hand aufs Herz, dann ergriff sie die Zügel wieder, um ihr Pferd neben dem von Savara innehalten zu lassen.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Savara.
»Wir haben Vilanya und Sarva verloren«, erwiderte Halana. »Sie wurden in einen Hinterhalt gelockt.«
»Also sind die Ashaki gewarnt.«
»Höchstwahrscheinlich. Irgendwelche Probleme?«
»Einige Sklaven, die ein wenig zu eifrig werden«, antwortete Savara. Sie seufzte. »Die Sklaven auf einem Besitz haben eine ganze Familie und den obersten Sklaven getötet, der einer unserer Verbündeten war. Ich habe ihnen gesagt, dass dies nicht unsere Absicht sei, aber ich denke nicht, dass sie zugehört haben.«
Halana nickte. »Es wird mehr Probleme dieser Art geben. Ich habe angedeutet, dass wir uns selbst um die Familien kümmern wollen, später.«
»Das könnte funktionieren, solange sie die Rolle des Gefängniswärters nicht allzu begeistert annehmen.« Savara sah sich um. »Lasst uns weitermachen.«