»Im Namen all der Menschen hier«, begann Veli, und sein förmlicher Tonfall lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. »Ich biete Euch unsere Stärke an. Wir haben heute Morgen Königin Savara und ihrer Gruppe Stärke gegeben. Wir werden wieder genug angesammelt haben, um morgen das Gleiche für Euch zu tun.« Er sah direkt Saral an.
Die Verräterin lächelte und senkte den Blick. »Ihr seid sehr großzügig.«
Veli zuckte die Achseln. »Wir wollen, dass Ihr siegt.«
Saral nickte. »Genau wie ich. Temi ist stark, aber es könnte sein, dass ich mich in die Schlacht stürzen werde, und das zu einer Zeit, da zusätzliche Stärke ausschlaggebend sein könnte. Ich akzeptiere Euer Angebot mit Dankbarkeit.«
Aus dem Augenwinkel sah Sonea, wie Regin sich umdrehte, um sie anzuschauen. Jeden Morgen, wenn sie ihren Ritt für den Tag begonnen hatten, hatte er ihren Arm berührt und ihr Macht gesandt. Da Saral und Temi in Hörweite waren, würde sie keine Einwände erheben können.
Nicht dass ich es tun sollte. Es ist der Grund, warum ich ihn mitgenommen habe. Wenn er nicht so entschlossen wäre, es zu tun, würde ich mich nicht dazu überwinden können, darum zu bitten. Erst recht nicht jetzt.
Auch an dem Zeitpunkt, den er wählte, gab es nichts auszusetzen. Vormittage waren eine bessere Zeit für die Überführung von Macht als Abende, seit sie sich ihren Verräterführern angeschlossen hatten. Nachdem er ihr seine Macht gegeben hatte, war er verletzbar. Wenn sie mit den Verrätern ritten, war es unwahrscheinlich, dass Sonea von ihm getrennt wurde, und Saral war wahrscheinlich verpflichtet, sie zu beschützen. Falls jemand versuchte, ihn anzugreifen, würde es höchstwahrscheinlich während ihres Aufenthalts auf einem der Güter geschehen. Vielleicht ein Sklave, der es, wie der erste, dem sie begegnet waren, der Gilde verübelte, dass sie sie nach dem sachakanischen Krieg nicht befreit hatten. Vielleicht die Ehefrau, die Mutter oder die Tochter eines Ashaki, die dachte, dass die Gilde gemeinsame Sache mit den Verrätern gemacht hatte. Am Abend war Regins Macht zum größten Teil wiederhergestellt, und er war besser in der Lage, sich zu schützen.
»Also, erzählt uns von Königin Savaras Gruppe.« Saral blickte zu Sonea. »Erzählt uns zuerst, wie es dem blassen jungen Mann ergangen ist, Lorkin?«
Veli zuckte die Achseln. »Es ging ihm gut.« Er sah Sonea an und runzelte die Stirn. »Ist er Kyralier?«
»Ja.« Saral nickte. »Er ist Schwarzmagierin Soneas Sohn.«
Der ehemalige Sklave schaute Sonea überrascht an. »Ein Kyralier, der mit den Verrätern kämpft?«
»Er ist jetzt ein Verräter. Er hat sich uns angeschlossen.« Saral lächelte. »Was ist mit dem Rest? Wie viele Personen waren in der Gruppe der Königin?«
»Zweiunddreißig«, antwortete er.
»Gut. Eine andere Gruppe ist zu ihnen gestoßen. Es ist gut zu wissen, dass alles nach Plan läuft, mehr oder weniger. Irgendwelche Neuigkeiten über Verluste?«
Veli nickte. Während er Namen auflistete, versuchte Sonea, die plötzliche, panische Beschleunigung ihres Herzschlags zu ignorieren. Es ist hart genug, in einem Satz die Worte »Lorkin« und »kämpfen« zu hören, aber es ist schlimmer, dann darüber nachzudenken, dass selbst Verräterinnen, die für diese Schlacht ausgebildet waren, starben. Sei vorsichtig, Lorkin. Bitte, lass nicht zu, dass ich auch dich überlebe.
Lorkin, der zur Decke emporstarrte, fluchte leise. Er konnte wieder einmal nicht einschlafen.
Das Gebäude, in dem sie sich befanden, hatte für ein Landgut eine durchschnittliche Größe, aber zwei weitere Gruppen hatten sich der von Savara angeschlossen, und es gab einfach nicht genug Betten für alle. Die meisten Verräter schliefen jetzt jede Nacht auf dem Boden. Weder Unbehagen noch die Atemgeräusche hätten ihn daran hindern sollen, Schlaf zu finden. Er war nach einem langen Tag auf Reisen sehr müde.
Es liegt daran, dass ich so vielen Geistern so nah bin, sagte er sich. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Er konnte gelegentlich Gedanken auffangen, aber nur, wenn er sich konzentrierte. Nein, es war das, woran er immer denken musste, sobald er seinen Gedanken freien Lauf ließ.
Wenn ich nicht an das Sklavenmädchen denke, dem ich das vergiftete Wasser gegeben habe, und mich frage, ob sie eine Verräterin war, mache ich mir Sorgen darum, dass Tyvara im Kampf getötet werden könnte. Oder ich. Oder Mutter, die in die Kämpfe verwickelt würde – warum konnte sie nicht einfach nach Hause gehen!
Und dann war da Kalia.
Zumindest hatte die Frau aufgehört, ständig »Spion« zu murmeln. Oder sie hatte aufgehört, es zu tun, wenn er sie hören konnte. Sie warf ihm und Tyvara noch immer hasserfüllte Blicke zu, aber das störte ihn nicht. Es war die Art, wie sie Savara ansah, die ihm Sorgen machte.
Niemals mit offenem Abscheu, dachte er. Es ist die Art, wie sie ganz demütig und gehorsam wird, wann immer Savara in ihre Richtung schaut, und dann kneift sie die Augen zusammen und lächelt, wann immer Savaras Aufmerksamkeit abgelenkt ist. Es ist das Gefühl von Erwartung, das ich spüre, jedes Mal, wenn ich mich auf ihren Geist konzentriere.
Bisher hatte er keine deutlichen Gedanken von ihr aufgefangen. Kalia schien in ihrem Denken genauso verschlagen zu sein, wie sie von ihrer ganzen Persönlichkeit her war. Sie hielt ihren Geist still, und ihre hauptsächlichen Gedanken waren kurz und meistens Kritik an anderen. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er das Wort »Idiot!« in ihrem Geist aufgefangen hatte.
Was erwartet sie? Hofft sie, dass Savara scheitern oder getötet wird, oder schmiedet sie tatsächlich Ränke, um dafür zu sorgen, dass das eine oder andere geschieht?
Kalia schlief auf der anderen Seite des Raums. Obwohl er wusste, dass er wahrscheinlich nicht mehr Erfolg damit haben würde, ihre Gedanken zu lesen, als zuvor, beruhigte er seine Atmung und konzentrierte sich. Alles, um seinen Geist von weniger angenehmen Erinnerungen abzulenken. Langsam richtete er seine Sinne nach außen. Von den meisten der Verräterinnen spürte er kaum mehr als ihre Präsenz. Obwohl einige noch wach waren, waren ihre Gedanken zu leise, um sie zu hören.
Dann hörte er eine vertraute Gedankenstimme, und eine Woge der Kälte lief durch seinen Körper. Es war dieselbe Gedankenstimme, die Monate zuvor im Sanktuarium in seinem eigenen Geist gesprochen hatte, dieselbe Präsenz, die Informationen gesucht hatte, die er nicht geben wollte.
… sie werden ihr die Schuld geben. All die Toten. Ich werde dafür sorgen, dass sie es tun … kann Savara nicht regieren lassen … besser, wenn sie in der Schlacht stirbt … das arrangieren … aber wie? Wenn sie schwach ist … Sprecherinnen werden scheitern. Tyvara ist zu jung … töricht, sie auszuwählen … niemand wird ihr folgen … besser, wenn sie ebenfalls stirbt … aber wie?
Lorkin bemerkte, dass er den Atem angehalten hatte, und zwang sich, langsam und leise die Luft auszustoßen. Ich habe mich geirrt. Jetzt, da sie ihre Gedanken nicht mehr unterbewusst verbirgt, sind sie laut und deutlich. Sie werden von Bosheit und Häme verstärkt. Sie wird dafür sorgen, dass Savara in der bevorstehenden Schlacht stirbt. Und Tyvara auch, wenn es nach ihr geht.
Wusste Savara davon? Gewiss sah sie, dass Kalia jede Situation ausnutzen würde, die ihre Position schwächen oder sie töten würde. Aber Savara hatte keine Ahnung, wie weit Kalia zu gehen bereit war.
Wenn ich es ihr sage, werde ich offenbaren, dass ich Gedanken von Menschen lesen kann, die ich nicht berühre. Mutter hat mich davor gewarnt, das zu tun. Er musste zugeben, dass seine Mutter recht hatte. Er wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass er seine Gedanken so leicht lesen konnte. Nicht einmal jemand, den er mochte. Selbst wenn jemand verstand, dass seine Fähigkeit sehr begrenzt war, würde er sich trotzdem ständig fragen, welche Gedanken er gerade mitbekam. Dieser Jemand würde sich von ihm fernhalten wollen, für den Fall, dass er etwas Privates oder ein ihm anvertrautes Geheimnis offenbaren könnte.