Würde Tyvara so empfinden? Was würde ich empfinden, wenn Tyvara meine Gedanken lesen könnte? Er sah sie an; sie lag neben ihm, hatte die Augen geschlossen und atmete langsam. Ich vertraue ihr. Warum hatte er ihr dann nicht von dem Sklavenmädchen erzählt, das er getötet hatte? Ich will nicht, dass sie denkt, ich sei dazu in der Lage.
Aber er hatte es getan. Vielleicht war es an der Zeit, es ihr zu erzählen. Nein. Immer ein anspruchsvolles Eingeständnis nach dem anderen. Die Warnung vor Kalia ist wichtiger. Und ich muss sie warnen, selbst wenn es bedeutet, dass ich Tyvara meine Fähigkeit offenbare. Wenn Kalias Plan funktioniert, werden sie beide sterben.
Er streckte die Hand aus, um Tyvara am Arm zu berühren. Sie runzelte die Stirn, hielt die Augen jedoch geschlossen.
– Tyvara.
Ihre Lider öffneten sich flatternd. Als ihr Blick seinem begegnete, stieg eine Welle der Zuneigung in ihm auf. Sie war so schön, selbst in dem schwachen Licht. Sie musste es gespürt haben, da er Überraschung, Freude und dann eine Mischung aus Zuneigung und Begehren erspürte.
– Lorkin? Was ist los? Ihre Gedankenstimme war träge und verschlafen.
– Kalia plant, Savara zu verraten.
Ihre Augen weiteten sich, und sie versteifte sich unter seiner Berührung. Er spürte, wie der Schreck die Zuneigung verdrängte.
– Woher weißt du das?
– Das kann ich dir nur erzählen, wenn du mir versprichst, es niemandem weiterzusagen.
Sie starrte ihn an.
– Ich verspreche es, aber nur wenn es mein Volk nicht in Gefahr bringt.
– Das wird es nicht.
Er erklärte es und berichtete ihr, was er belauscht hatte. Tyvaras Augen weiteten sich, während er sprach.
– Du kannst … wie lange kannst du das schon?
– Seit ich im Palastgefängnis war. Mutter sagt, die Leute hätten geglaubt, dass mein Vater es tun konnte. Sie dachte, es sei eine Übertreibung. Dass er einfach ungewöhnlich scharfsichtig war.
– Wie oft hast du meine Gedanken aufgefangen?
– Nicht oft. Als wir uns wiedergefunden haben, habe ich einige Worte gehört. Das war, als ich begriff, dass ich es mir zuvor nicht eingebildet hatte. Seither … nicht mit Absicht. Nur ein- oder zweimal versehentlich. Ich muss mich sehr konzentrieren, und es scheint mir unhöflich, anderer Menschen Gedanken zu belauschen.
– Außer bei Kalia. Sie klang erheitert.
– Nein. Ich war mir sicher, dass sie etwas vorhatte. Jetzt weiß ich es mit Bestimmtheit. Savara ist in Gefahr. Du ebenfalls.
– Und du. Savaras Vertrauen zu dir trägt eine Menge dazu bei, andere zu überzeugen, dass man dir vertrauen kann. Sie runzelte die Stirn, als ihr ein anderer Gedanke kam.
– Was ist los?
– Wie kann sich jemand versehentlich sehr konzentrieren?
Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er spürte Argwohn. Stieß er sie jetzt ab? Er suchte nach einer Antwort, die sie zufriedenstellen würde.
– Wenn ich dir besondere Aufmerksamkeit schenke.
Abrupt verschwand die Falte zwischen ihren Brauen, und sie grinste.
– Es könnte einige interessante Vorteile haben, jemanden in der Nähe zu haben, der weiß, wann man etwas will.
Er verdrehte die Augen.
– Wie wäre es, wenn wir aufhörten, an Möglichkeiten zu denken, wie du mich herumkommandieren kannst, und uns überlegen, was wir wegen Kalia unternehmen sollen.
Ihr Lächeln verblasste.
– Wir müssen es Savara sagen.
– Können wir das tun, ohne ihr meine neue Fähigkeit zu offenbaren? Können wir einfach sagen, wir hätten Kalia belauscht?
– Savara belügen? Das kann ich nicht tun. Außerdem wird sie wissen wollen, mit wem Kalia gesprochen hat.
– Nicht belügen, nur für den Moment vermeiden, mehr zu sagen, als wir müssen. Wir werden sagen, sie hätte Selbstgespräche geführt.
– Kalia, die laut über Verrat nachdenkt? So dumm ist sie nicht. Savara wird einen Beweis benötigen, wenn sie sich Kalia vornehmen soll.
– Dann wird sie allen beweisen müssen, dass ich das tun kann und dass man meinem Wort vertrauen kann. Kalia wird darauf hinweisen, dass ich vor ihnen allen ein Geheimnis hatte, und sie wird sagen, es sei ein Beweis dafür, dass ich ein Spion bin.
Tyvara stieß einen kleinen Seufzer der Frustration aus. Lorkin ergriff ihre Hand und drückte sie.
– Zumindest wissen wir, dass Kalia etwas im Schilde führt. Wir können sie im Auge behalten. Abwarten, bis sie ihren nächsten Zug macht, und sie dann aufhalten.
– Das wird nicht gut aussehen. Savara wird wütend darüber sein, dass wir sie nicht gewarnt haben. Kalia wird behaupten, wir hätten sie hereingelegt. Nein. Wir müssen Savara einweihen. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Aber ich denke nicht, dass sie es jemand anderem erzählen wird. Das würde die anderen dazu bringen, dir zu misstrauen, und im Moment zu viele Probleme für uns schaffen.
Lorkin dachte an die Warnung seiner Mutter, dann seufzte er.
– Ich hoffe, du hast recht. Wann willst du es tun?
– Jetzt. Es ist unsere beste Chance, sie allein anzutreffen.
Als Tyvara aufstand, folgte Lorkin ihrem Beispiel. Er widerstand der Versuchung, zu Kalia hinüberzuschauen, als sie sich aus dem Raum schlichen. Ich hoffe, ich werde dies nicht bedauern.
Savara war in der Küche; sie saß mit zwei ehemaligen Sklavinnen des Guts an einem langen Holztisch. Sie schickte die Frauen weg und lud ihn und Tyvara ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen, dann lauschte sie, während Tyvara erklärte, was Lorkin von Kalia gehört hatte. Savaras Blick war starr auf Lorkin gerichtet, und ihre Augen wurden langsam schmal.
»Also«, sagte sie in einem leisen, aber leicht abgehackten Tonfall, »was habt Ihr uns sonst noch nicht erzählt, Lorkin?«
Lorkin dachte sofort an das Sklavenmädchen. Er zuckte zusammen und bereute es sofort. Er spürte, wie Tyvara von ihm abrückte, und als er sich umdrehte, sah er, dass sie ihn anstarrte.
»Da ist noch etwas?«
Er schaute von ihr zu Savara. Einmütig verschränkten beide Frauen die Arme vor der Brust und fixierten ihn mit einem erwartungsvollen Blick. Es wäre komisch gewesen, wenn ihm nicht ein Eingeständnis bevorstünde, vor dem ihm graute.
Er senkte den Blick, holte tief Luft und zwang die Worte heraus. »Als ich im Gefängnis war, haben sie ein Sklavenmädchen gefoltert, um festzustellen, ob mich das zum Sprechen bringen würde. Ich … ich habe ihr Wasser gegeben, von dem ich wusste, dass es vergiftet war. Es hatte die warnenden Hieroglyphen, von denen Ihr gesagt habt, dass ich danach Ausschau halten soll. Ich dachte, sie sei eine Verräterin und wüsste, was sie tat.«
Er hörte Tyvara nach Luft schnappen, konnte sich aber nicht überwinden, sie anzusehen.
»Ihr wollt wissen, ob sie eine Verräterin war«, stellte Savara fest.
Er zwang sich, ihr in die Augen zu blicken. »Ja.«
»Ihr wisst, dass es keinen Unterschied machen wird.«
Er zuckte die Achseln. »Aber ich werde nicht länger darüber nachgrübeln.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie war keine Verräterin, soweit ich weiß. Ihr habt eine harte und schreckliche Entscheidung getroffen, und Ihr könnt niemals wissen, ob sie richtig oder falsch war.« Savara beugte sich über den Tisch, ergriff seine Hand und drückte sie.