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Der Wind frischte einen Moment auf und wehte südwärts. Er würde die Geräusche der Feuchtländerpferde und der Wagen übertönen.

Sie richtete erneut ihre Stola und versagte es sich, das Gesicht zu verziehen. Sie durfte um keinen Preis beunruhigt wirken. Ein Blick nach rechts vertrieb die Sorge sofort wieder. Über zweihundert Weise Frauen der Shaido hatten sich dort versammelt, und normalerweise beobachteten zumindest einige sie wie Geier, auch wenn aller Augen auf die Anhöhe gerichtet waren. Nicht nur eine der Frauen richtete unbehaglich ihre Stola oder glättete bauschige Röcke. Sevanna schürzte die Lippen. Schweiß perlte auf einigen jener Gesichter. Schweiß! Wo war ihre Ehre geblieben, daß sie bei jedem Blick nervös wurden?

Alle erstarrten ein wenig, als ein junger Sovin Nai auf der Anhöhe erschien und im Hinabsteigen seinen Schleier senkte. Er kam direkt zu Sevanna, wie es angemessen war, aber zu ihrer Verärgerung sprach er ausreichend laut, daß alle ihn hören konnten. »Einer ihrer dreisten Kundschafter ist entkommen. Er war verletzt, ist aber dennoch zu Pferde geflüchtet.«

Die Anführer der Gemeinschaften stürmten voran, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Das durfte sie nicht durchgehen lassen. Sie würden im eigentlichen Kampf die Führung übernehmen - Sevanna hatte niemals in ihrem Leben mehr getan, als einen Speer nur in der Hand zu halten -, aber sie würde sie keinen Moment vergessen lassen, wer sie war. »Erhebt jeden einzelnen Speer gegen sie«, befahl sie laut, »bevor sie sich vorbereiten können.« Sofort scharten sie sich wie ein Mann um sie.

»Jeden Speer?« fragte Bendhuin ungläubig. »Ihr meint, außer den Vorposten...«

Maeric unterbrach ihn mit finsterem Gesicht. »Wenn wir keine Reserve zurückbehalten, können wir...«

Sevanna schnitt ihnen beiden das Wort ab. »Jeden Speer! Wir haben es mit Aes Sedai zu tun. Wir müssen sie augenblicklich überwältigen!« Efalin und die meisten der anderen nahmen einen unbewegten Gesichtsausdruck an, aber Bendhuin und Maeric runzelten nachdenklich die Stirn. Narren. Sie hatten ein Dutzend Aes Sedai vor sich, und doch wollten sie, trotz der mehr als vierzigtausend Algai'd'siswai, auf denen sie bestanden hatten, ihren Kundschafter-Vorposten und ihre Reservespeere bewahren, als müßten sie noch weiteren Aiel oder einem Feuchtländer-Heer gegenübertreten. »Ich spreche als Clanhäuptling der Shaido.« Sie müßte das eigentlich nicht erwähnen, aber andererseits konnte eine Erinnerung daran nicht schaden. »Sie sind nur eine Handvoll.« Sie wählte jetzt jedes Wort mit Verachtung. »Sie können überwältigt werden, wenn die Speere schnell genug sind. Ihr wart bei Sonnenaufgang noch bereit, Desaine zu rächen. Rieche ich jetzt Angst? Angst vor ein paar Feuchtländern? Haben die Shaido ihre Ehre verloren?«

Diese Worte ließen ihre Gesichter, wie beabsichtigt, versteinern. Sogar Efalins Augen wirkten wie polierte graue Edelsteine, als sie sich verschleierte. Sie gab in der Zeichensprache Anweisungen, und als die Anführer der Gemeinschaften die Anhöhe hinaufstürmten, folgten ihnen die Töchter des Speers um Sevanna. Das hatte sie nicht beabsichtigt, aber zumindest bewegten sich die Speerträger. Sie konnte sogar vom tiefsten Punkt der Senke aus erkennen, daß scheinbar kahler Boden Cadin'sorbekleidete Gestalten ausspie, die mit langen Schritten, die sogar Pferde überrunden konnten, südwärts eilten. Es galt, keine Zeit zu verschwenden. Mit dem Gedanken, später mit Efalin zu sprechen, wandte Sevanna sich den Weisen Frauen zu.

Aus denen erwählt, die die Eine Macht lenken konnten, kamen sechs oder sieben Weise Frauen der Shaido auf jede Aes Sedai um al'Thor, und doch sah Sevanna Zweifel, den sie hinter versteinerten Gesichtern zu verbergen suchten, aber er war dennoch da, an unruhigen Blicken und die Lippen benetzenden Zungen erkennbar. Heutzutage wurden viele Traditionen abgelegt, Traditionen, die so alt und stark waren wie das Gesetz. Weise Frauen nahmen nicht an Schlachten teil. Weise Frauen hielten sich weit von Aes Sedai fern. Sie kannten die uralten Geschichten, daß die Aiel ins Dreifaltige Land geschickt wurden, um die Pläne der Aes Sedai zu durchkreuzen, und daß sie vernichtet würden, wenn sie ihnen jemals wieder einen Plan verdarben. Sie hatten gehört, daß Rand al'Thor vor allen behauptet haben sollte, die Aiel hätten als Teil ihres Dienstes an den Aes Sedai geschworen, keine Gewalt anzuwenden.

Sevanna war einst sicher gewesen, daß jene Geschichten Lüge waren, aber in letzter Zeit glaubte sie, daß die Weisen Frauen sie als wahr erachteten. Natürlich hatte keine von ihnen ihr das gesagt. Es war nicht wichtig. Sie selbst hatte niemals die beiden Reisen nach Rhuidean unternommen, die erforderlich waren, um eine Weise Frau zu werden, aber die anderen hatten sie dennoch, wenn auch zum Teil widerwillig, akzeptiert. Jetzt hatten sie keine andere Wahl, als sie weiterhin zu akzeptieren. Nutzlose Traditionen würden neugestaltet werden.

»Aes Sedai«, sagte sie leise. Sie beugten sich mit gedämpft klingenden Armreifen und Halsketten zu ihr, um ihr Flüstern verstehen zu können. »Rand al'Thor, der Car'a'carn, ist in ihrer Gewalt. Wir müssen ihn befreien.« Einige runzelten die Stirn. Die meisten glaubten, sie wollte den Car'a'carn lebend gefangennehmen, um den Tod Couladins, ihres zweiten Ehemannes, zu rächen. Sie verstanden das, aber deshalb waren sie nicht hergekommen. »Aes Sedai«, zischte sie verärgert. »Wir haben unser Versprechen gehalten, aber sie haben ihres gebrochen. Wir haben nichts verletzt, sie aber alles. Ihr wißt, wie Desaine ermordet wurde.« Natürlich wußten sie es. Die sie beobachtenden Blicke gewannen jäh an Schärfe. Eine Weise Frau zu töten, kam dem Töten einer schwangeren Frau, eines Kindes oder eines Schmieds gleich. Einige blickten sehr streng drein - Theravas, Rhiales und andere. »Wenn wir diese Frauen ungeschoren davonkommen lassen, dann sind wir weniger als Tiere, dann haben wir keine Ehre. Ich aber halte an meiner Ehre fest.«

Mit diesen Worten raffte sie würdevoll ihre Rocke und erklomm mit hocherhobenem Kopf und ohne zurückzuschauen die Anhöhe. Sie war sich sicher, daß die anderen ihr folgen würden. Therava und Norlea und Dailin würden dafür sorgen, und auch Rhiale und Tion und Meira und die anderen, die sie vor einigen Tagen begleitet hatten, um zuzusehen wie Rand al'Thor von den Aes Sedai geschlagen und wieder in seine Holzkiste gesteckt wurde. Ihre Mahnung hatte noch mehr den dreizehn als den anderen gegolten, und sie wagten es nicht, sie zu enttäuschen. Desaines Tod schweißte sie zusammen.

Weise Frauen mit gerafften Röcken konnten nicht mit den Algai'd'siswai in ihren Cadin'sors mithalten, wie sehr sie es auch versuchten. Sie liefen fünf Meilen über jene wogenden Hügel - kein langer Weg -, erreichten einen Hügelkamm und sahen, daß der Tanz der Speere bereits begonnen hatte. In gewisser Weise.

Tausende von verschleierten Algai'd'siswai in Grau- und Brauntönen drängten sich um einen Kreis von Feuchtländer-Wagen. Dieser Wagenkreis umschloß eine der kleinen Baumgruppen, die in dieser Gegend hin und wieder zu finden waren. Sevanna atmete verärgert ein. Die Aes Sedai hatten sogar Zeit gehabt, alle ihre Pferde heranzubringen. Die Speerträger umzingelten die Wagen, bedrängten sie, ließen Pfeile auf sie herabregnen, aber die vorne befindlichen Soldaten schienen gegen eine unsichtbare Mauer zu stoßen. Zunächst gelangten die am höchsten fliegenden Pfeile über diese Mauer, aber dann trafen auch sie irgendwo ungesehen auf und prallten zurück. Leises Murmeln erhob sich unter den Weisen Frauen. »Erkennt Ihr, was die Aes Sedai tun?« fragte Sevanna, als könne sie die Gewebe der Einen Macht ebenfalls sehen. Sie schnaubte verächtlich. Die Aes Sedai mit ihren ruhmreichen Drei Eiden waren Narren. Wenn sie schließlich beschlössen, die Macht als Waffe zu benutzen, anstatt sie nur dazu zu verwenden, Barrieren aufzubauen, wäre es zu spät. Vorausgesetzt, die Weisen Frauen standen nicht zu lange da und schauten nur zu. Irgendwo in jenen Wagen befand sich Rand al'Thor, vielleicht noch immer geduckt in einer Kiste, darauf wartend, daß sie ihn befreite. Wenn die Aes Sedai ihn festzuhalten vermochten, dann konnte auch sie es, mit Hilfe der Weisen Frauen. Und mit Hilfe eines Versprechens. »Therava, führt Eure Hälfte jetzt westwärts. Haltet Euch zum Angriff bereit, wenn ich es tue. Für Desaine und das Toh, das die Aes Sedai uns schulden. Wir werden sie ihrem Toh begegnen lassen, wie niemand jemals zuvor seinem Toh begegnet ist.«