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In der Folge schickte er mir Manuskriptseiten, die ich kommentierte, teilweise kritisierte, und die sich zum Weltbestseller Der Schwarze Schwan fügten. Das Buch katapultierte Taleb in die Liga der intellektuellen Weltstars. Mit wachsendem intellektuellem Hunger verschlang ich die »Heuristics-and-Biases«-Literatur. Parallel dazu verstärkte sich der Austausch mit einer Vielzahl von Leuten, die man als amerikanische Ostküsten-Intelligenzija bezeichnen könnte. Jahre später realisierte ich, dass ich neben meinem Job als Schriftsteller und Unternehmer ein veritables Studium der sozialen und kognitiven Psychologie absolviert hatte.

Denkfehler, so wie ich den Begriff hier verwende, sind systematische Abweichungen zur Rationalität, zum optimalen, logischen, vernünftigen Denken und Verhalten. Das Wort »systematisch« ist wichtig, weil wir oft in dieselbe Richtung irren. Zum Beispiel kommt es viel häufiger vor, dass wir unser Wissen überschätzen, als dass wir es unterschätzen. Oder die Gefahr, etwas zu verlieren: Sie bringt uns viel schneller auf Trab als die Aussicht, etwas zu gewinnen. Ein Mathematiker würde von einer »skewed« (asymmetrischen) Verteilung unserer Denkfehler sprechen. Ein Glück: Die Asymmetrie macht die Fehler manchmal vorhersehbar.

Um das Vermögen, das ich im Lauf meiner schriftstellerischen und geschäftlichen Tätigkeit angehäuft hatte, nicht leichtfertig zu verspielen, begann ich, eine Liste der systematischen Denkfehler samt Notizen und persönlichen Anekdoten anzulegen. Ohne Absicht, diese jemals zu veröffentlichen. Ich tat dies ganz für mich allein. Bald merkte ich, dass mir diese Liste nicht nur im Bereich der Geldanlage von Nutzen war, sondern auch im Geschäfts- und Privatleben. Das Wissen um die Denkfehler machte mich ruhiger und besonnener: Ich erkannte meine eigenen Denkfallen frühzeitig und konnte sie abwenden, bevor sie großen Schaden angerichtet hatten. Und ich verstand zum ersten Mal, wenn andere unvernünftig handelten, und konnte ihnen gewappnet begegnen – vielleicht sogar mit einem Vorteil. Aber vor allem war damit das Gespenst der Irrationalität gebannt – ich hatte Kategorien, Begriffe und Erklärungen zur Hand, um es zu verscheuchen. Blitz und Donner sind seit Benjamin Franklin nicht seltener, schwächer oder leiser geworden, aber weniger angsteinflößend – und so geht es mir seither mit der eigenen Unvernunft.

Bald begannen sich Freunde, denen ich davon erzählte, für mein kleines Kompendium zu interessieren. Dieses Interesse führte zu einer wöchentlichen Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Schweizer SonntagsZeitung, zu unzähligen Vorträgen (vorwiegend vor Ärzten, Investoren, Aufsichtsräten und CEOs) und schließlich zu diesem Buch. Voilà. Sie halten es nun in der Hand – nicht Ihr Glück, so doch zumindest eine Versicherung gegen allzu großes selbst verschuldetes Unglück.

Rolf Dobelli, 2011

THE SURVIVORSHIP BIAS

Warum Sie Friedhöfe besuchen sollten

Egal, wo Reto hinschaut, überall sieht er Rockstars. Sie treten im Fernsehen auf, auf den Titelseiten der Illustrierten, in Konzertprogrammen und auf den Fan-Pages im Internet. Ihre Songs sind unüberhörbar – im Einkaufszentrum, auf der eigenen Playlist, im Fitnessstudio. Die Rockstars sind da. Es sind viele. Und sie haben Erfolg. Animiert vom Erfolg zahlloser Gitarrenhelden gründet Reto eine Band. Wird er es je schaffen? Die Wahrscheinlichkeit liegt eine Haaresbreite über null. Wie so viele wird er vermutlich auf dem Friedhof der gescheiterten Musiker landen. Diese Begräbnisstätte zählt 10.000-mal mehr Musiker als die Showbühne, doch kein Journalist interessiert sich für die Gescheiterten – mit Ausnahme der heruntergefallenen Stars. Dies macht den Friedhof für Außenstehende unsichtbar.

Survivorship Bias (deutsch etwa: Überlebensirrtum) bedeutet: Weil Erfolge größere Sichtbarkeit im Alltag erzeugen als Misserfolge, überschätzen Sie systematisch die Aussicht auf Erfolg. Als Außenstehender erliegen Sie (wie Reto) einer Illusion. Sie verkennen, wie verschwindend gering die Erfolgswahrscheinlichkeit ist. Hinter jedem erfolgreichen Schriftsteller verbergen sich 100 andere, deren Bücher sich nicht verkaufen. Und hinter jedem dieser wiederum 100, die keinen Verlag gefunden haben. Und hinter jedem dieser wiederum Hunderte mit einem angefangenen Manuskript in der Schublade. Wir aber hören nur von den Erfolgreichen und verkennen, wie unwahrscheinlich schriftstellerischer Erfolg ist. Dasselbe gilt für Fotografen, Unternehmer, Künstler, Sportler, Architekten, Nobelpreisträger, Fernsehmoderatoren und Schönheitsköniginnen. Die Medien haben kein Interesse, auf den Friedhöfen der Gescheiterten zu graben. Dafür sind sie auch nicht zuständig. Bedeutet: Diese Denkarbeit müssen Sie übernehmen, wenn Sie den Survivorship Bias entschärfen wollen.

Der Survivorship Bias wird Sie spätestens beim Thema Geld erwischen: Ein Freund gründet ein Start-up. Zum Kreis der potenziellen Investoren gehören auch Sie. Sie wittern die Chance: Das könnte die nächste Microsoft werden. Vielleicht haben Sie Glück. Wie sieht die Realität aus? Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Firma gar nicht erst aus den Startlöchern kommt. Das Nächstwahrscheinliche ist der Bankrott nach drei Jahren. Von den Firmen, die die ersten drei Jahre überleben, schrumpfen die meisten zu einem KMU mit weniger als zehn Angestellten. Fazit: Sie haben sich von der Medienpräsenz der erfolgreichen Firmen blenden lassen. Also keine Risiken eingehen? Nein. Aber tun Sie es mit dem Bewusstsein, dass der kleine Teufel Survivorship Bias die Wahrscheinlichkeiten wie ein geschliffenes Glas verzerrt.

Nehmen wir den Dow Jones. Er besteht aus lauter Überlebenden (Survivors). Nicht in einem Aktienindex vertreten sind nämlich die fehlgeschlagenen und klein gebliebenen Firmen – also die Mehrzahl. Ein Aktienindex ist nicht repräsentativ für die Wirtschaft eines Landes. So wie die Presse nicht repräsentativ über die Gesamtmenge der Musiker berichtet. Auch die Unmenge an Erfolgsbüchern und Erfolgstrainern sollte Sie skeptisch machen: Gescheiterte schreiben keine Bücher und geben keine Vorträge über ihr Scheitern.

Ganz heikel wird der Survivorship Bias, wenn Sie selbst Teil der »überlebenden« Menge sind. Selbst wenn Ihr Erfolg auf purem Zufall basiert, werden Sie Gemeinsamkeiten mit anderen Erfolgreichen entdecken und diese zu »Erfolgsfaktoren« erklären. Beim Besuch des Friedhofs der Gescheiterten (Personen, Firmen etc.) würden Sie allerdings feststellen, dass die vermeintlichen »Erfolgsfaktoren« oft auch von diesen angewendet wurden.

Wenn genügend Wissenschaftler ein bestimmtes Phänomen untersuchen, wird es vorkommen, dass ein paar dieser Studien aus reinem Zufall heraus statistisch relevante Ergebnisse liefern – zum Beispiel über den Zusammenhang zwischen Rotweinkonsum und hoher Lebenserwartung. So erzielen diese (falschen) Studien sofort einen hohen Bekanntheitsgrad. Ein Survivorship Bias.

Doch genug Philosophie. Survivorship Bias bedeutet: Sie überschätzen systematisch die Erfolgswahrscheinlichkeit. Zur Gegensteuerung: Besuchen Sie möglichst oft die Grabstätten der einst vielversprechenden Projekte, Investments und Karrieren. Ein trauriger Spaziergang, aber ein gesunder.

THE SWIMMER’S BODY ILLUSION

Ist Harvard eine gute oder schlechte Universität? Wir wissen es nicht

Als der Essayist und Börsenhändler Nassim Taleb den Entschluss fasste, etwas gegen seine hartnäckigen Kilos zu unternehmen, schaute er sich bei den verschiedensten Sportarten um. Die Jogger machten ihm einen dürren und unglücklichen Eindruck. Die Bodybuilder sahen breit und dümmlich aus. Die Tennisspieler, ach, so gehobene Mittelklasse! Doch die Schwimmer gefielen ihm. Sie hatten diese gut gebauten, eleganten Körper. Also entschloss er sich, zweimal die Woche in das chlorhaltige Wasser des lokalen Schwimmbades zu steigen und richtig hart zu trainieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, dass er einer Illusion auf den Leim gekrochen war. Die professionellen Schwimmer haben diesen perfekten Körperbau nicht, weil sie ausgiebig trainieren. Es ist andersherum: Sie sind gute Schwimmer, weil sie so gebaut sind. Ihr Körperbau ist ein Selektionskriterium, nicht das Resultat ihrer Aktivitäten.