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Rom, Anno Domini 1512

Zur Eröffnung der Sixtinischen Kapelle erschien alles, was in Rom Rang und Namen hatte, um das Wunder aus Gestalt und Farbe zu bestaunen. Michelangelo stand nur am Rand und schaute missmutig vor sich hin. Was gingen ihn die Leute an! Er fühlte sich leer und müde. Alles, was er vermochte, hatte er an die Decke gebracht. Und war nun erschöpft wie Gott am siebenten Tag und sehnte sich wie dieser danach, endlich auszuruhen. Giovanni de Medici kam mit strahlenden Augen auf ihn zu. »Du hast dich selbst übertroffen, Michelangelo!«

»Ergebensten Dank«, antwortete der Künstler kühl und hoffte, dass Giovanni nicht bemerken würde, dass der Engel, um dessen Nacken Gottes linker Arm lag, Contessinas Züge trug, ihn also aus den Augen seiner Schwester anblickte.

Der Kardinal lächelte hintersinnig, dann beugte er sich kumpelhaft zu Michelangelo. »Wenn ich all diese schönen Körper in ihrer Perfektion sehe, dann habe ich das Gefühl, dass wir Pieros gedenken und ihm danken sollten.«

»Wieso Piero?« Der Maler verstand die Anspielung nicht. Giovanni amüsierte sich köstlich darüber, dass er Michelangelo gefoppt hatte.

»Ganz einfach! Erkläre mir einmal, wie du überhaupt imstande gewesen wärest, diese vielen schönen, nackten Körper so lebendig zu malen, wenn du mir nicht die Bildchen angefertigt hättest und Piero dich zu diesem Zweck nicht zum Malen in die einschlägigen Etablissements geschleppt hätte? Gott ist groß, und er ist überall«, lachte Giovanni de Medici und ließ Michelangelo stehen, weil er Kardinal Petrucci entdeckt hatte, mit dem er unbedingt ein paar Worte wechseln wollte.

Michelangelo kochte innerlich. Wie konnte es dieser Medici wagen, seine Schöpfung in den Schmutz zu ziehen, Gott und die Menschen, die Propheten und Sibyllen mit den Huren und den käuflichen Jünglingen in den Florentiner Bordellen zu vergleichen? Er fühlte, dass er die Beherrschung zu verlieren drohte, als eine wohlbekannte Stimme an sein Ohr drang.

»Ist dir nicht wohl, mein Sohn?«, fragte Julius II.

Der Maler rang um Fassung. »Doch, Heiliger Vater, es ist alles, wie es sein soll.«

»Das Werk ist dir gelungen, Michelangelo, du hast das Leben gestaltet, das wahre, das wirkliche Leben. Nachdem das vollbracht ist, geht es nun aber endlich an Unser Grabmal!«

»Ich dachte, Ihr hättet diesen Plan verworfen«, sagte Michelangelo erstaunt.

»Natürlich nicht. Aber erst musste dieses Werk hier fertiggestellt werden. Und nun beeile dich, mein Sohn.«

»Kommt Messèr Donato denn ordentlich voran, oder wird Euer Grabmal im Freien stehen müssen?« Michelangelo ergriff die Möglichkeit beim Schopf, seinen Zorn über Giovanni de Medicis Boshaftigkeit an dem ungeliebten Konkurrenten auszulassen.

»Wir haben ihn angewiesen, von der Vierung abzulassen und zunächst den Westchor fertigzustellen. Nun säume aber auch du nicht! Du weißt, Wir haben keine Zeit, keine Zeit. Die Uhr zeigt fünf vor zwölf!«

Michelangelo wollte etwas einwenden, aber der Papst winkte ab. Er wollte keine Lobhudeleien auf seine Gesundheit hören – zu sehr spürte er, wie es körperlich mit ihm bergab ging.

Michelangelo hätte warten sollen, doch er nahm noch am selben Abend die Arbeit am Mausoleum Julius II. wieder auf. Den Triumph, im fertigen Westchor zu stehen und laut und vernehmlich nach dem Grabmal zu fragen, gönnte er Bramante nicht. Aber er kam nicht voran. Die Bildhauerei reizte ihn nicht mehr, sie inspirierte ihn nicht, sondern langweilte ihn nur noch. Nach dem Deckenfresko für die Sixtina kam es ihm wie ein Witz vor, wieder an diesem Grabmal zu arbeiten. Gern hätte er einen anderen Auftrag angenommen, Anfragen flatterten zuhauf in sein Haus, eine verlockender als die andere. Doch er durfte sich nicht gegen den Willen des Papstes stellen, denn das Grabmal war dessen letzter Auftrag, den er auch ausgeführt wissen wollte. So arbeitete Michelangelo bis zur Erschöpfung und fühlte sich, als sei er in der Hölle angekommen, denn Handwerk und Erfahrung mussten die Inspiration ersetzen, die sich nicht einstellen wollte. Er spürte, wie ihn die Arbeit aussaugte. Lange würde er das nicht mehr durchhalten können.

Rom, Anno Domini 1513

Am Abend des 20. Februar 1513 wurde Kardinal Giovanni de Medici dringend in den Vatikanpalast gerufen. In Begleitung von Bibbiena und zwei Fechtern begab er sich zu Fuß zum Borgo. Er wusste, dass der Papst im Sterben lag.

Als er das Schlafzimmer betrat, hatten sich die anderen Kardinäle bereits dort versammelt. Julius schaute ihn scharf an. »Es ist gut, dass du auch da bist, mein Sohn Giovanni!«, sagte er auf Italienisch, dann setzte er auf Lateinisch fort: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Betet für mich, denn ich war der größte Sünder von allen, weil ich das hohe Amt, das Gott mir verliehen hat, nicht so geführt habe, wie ich es hätte ausüben sollen. Zu wenig Frieden herrschte. Zu viel Politik habe ich getrieben und das Heilige Land dennoch oder vielleicht gerade deshalb nicht befreit! Ihr aber hütet euch vor dem Hochmut und vor der Trägheit im Glauben. Betet eifrig und beachtet streng die Gebote. Fürchtet nur Gott, aber ihn fürchtet auch! Für die Wahl des neuen Stellvertreters Christi folgt meiner Bulle, und haltet euch von Ämterkauf und Bestechlichkeit fern. Lasst euch einzig vom Heiligen Geist leiten. Ruft alle Kardinäle zum Konklave zusammen – nicht das Konzil, sondern das Konklave wählt den Papst. Ausgeschlossen sind nur die schismatischen Kardinäle. Obwohl ich ihnen als Mensch von Herzen vergebe, dürfen Wir es als Papst nicht. Denn als Vicarius Petri haben Wir streng das Kirchenrecht zu beachten!« Fest und klar hatte er gesprochen. Dann wurden seine Gesichtszüge weicher, und er bat auf Italienisch darum, seinem Neffen, dem Herzog von Urbino, das Vikariat von Pesaro auf Lebenszeit zu übertragen. Danach ließ er sich ermattet zurücksinken und murmelte kaum hörbar:

»Locutus est Dominus ad Mosen dicens loquere Aaron et filiis eius sic benedicetis filiis Israhel et dicetis eis benedicat … Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.«

Nachdem er die Kardinäle gesegnet hatte, gab ihm sein Diener einen Trank mit flüssigem Gold zu trinken. Sein Leibarzt erhoffte sich von dieser Medizin eine Verbesserung seines körperlichen Zustandes. Allein, die Kraft, die ihn zeitlebens begleitet hatte, verließ ihn nun. Die Kardinäle wachten an seinem Sterbebett, und Giovanni de Medici dachte im Stillen über die Launen des Schicksals nach.

Beim Tod seines Vaters, der sein Leben und das seiner Familie, ja auch der Freunde und das der guten Stadt Florenz so sehr verändert hatte, war er nicht zugegen gewesen. Es war ihm versagt geblieben, von Lorenzo dem Prächtigen Abschied zu nehmen. Mit niemandem, nicht einmal mit Piero, seinem geliebten älteren Bruder, hatte er darüber gesprochen, aber er litt darunter, bis auf den heutigen Tag. Dieses letzte Gespräch, das nicht stattgefunden hatte, hätte sein Leben verändert. Das spürte er. Und was ihm bei seinem leiblichen Vater versagt geblieben war, wurde ihm nun bei diesem fremden Mann, den sie alle den Heiligen Vater nannten, abverlangt. Er hatte Julius geschätzt, auch gefürchtet, aber er hatte ihn weder bewundert noch geliebt. Bewundert und geliebt hatte Giovanni de Medici, der Mann mit dem runden, pausbäckigen Knabengesicht, nur Lorenzo, den man Il Magnifico nannte. Nein, dieses verlorene Gespräch brannte auf seiner Seele. Der einzige Trost, den er empfand, bestand darin, dass er auch ohne Gespräch das Vermächtnis seines Vaters kannte: Führe die Medici wieder nach Florenz zurück und mache sie wieder zu den Herren der Stadt. Denn die Medici konnten nicht ohne Florenz und Florenz konnte nicht ohne die Medici sein. Das hatte der Niedergang der Stadt unter Savonarola und dem Galfoniere Piero Soderini gezeigt. Es gab nur einen Weg zur Erfüllung des Vermächtnisses, und der führte über die Cathedra Petri. Darüber dachte Giovanni nach, als er mit den anderen Kardinälen dem sterbenden Pontifex das Geleit gab.