Was sich seinen Augen bot, sah wild und chaotisch aus. Zum einen stand die alte Peterskirche von der Benediktionsloggia über den Innenhof bis zur halben Basilika erhaben wie seit über tausend Jahren so unbeeindruckt da, als sei in den letzten sieben Jahren nichts geschehen. Doch dann brach das alte Gemäuer wie mit einem scharfen Schwert gespalten ab, und es gähnte eine Lücke von mehreren Fuß, bis sich vollkommen unvermittelt als gewaltiger Turm der Kubus der Vierung in den Himmel erhob und anschickte, den Glockenturm von Santa Maria in Turri zu überragen. Die vier Pfeiler verbanden Pendentifs und Stützbögen, sodass man sie auch für Riesen halten konnte, die sich gegenseitig die Arme um die Schulter gelegt hatten, als würden sie sich aufeinander einschwören, bevor sie in den Kampf zogen. Ihnen folgten die Konterpfeiler, von denen aber noch keiner seine endgültige Höhe erreicht hatte, die aber gebraucht wurden, um das Gewicht der mächtigen Kuppel abzufangen. Doch an die Kuppel zu denken verbot sich, bevor nicht die Konterpfeiler hochgemauert und der Tambour auf die Pfeiler und die sie verbindenden Pendentifs gesetzt worden waren.
Seit Bramantes Tod hatten sich die Verhältnisse auf der Baustelle unübersichtlich entwickelt. Zwar hatte der Architekt vor seinem Tod noch den Maler Raffael als neuen leitenden Baumeister durchgesetzt, aber der Maler ließ sich weder bei Antonio noch auf der Baustelle sehen. Wie alle anderen wartete auch er auf die Rückkehr des Papstes von der Jagd in der Campagna, um sich mit ihm zu besprechen, bevor er seine Tätigkeit aufzunehmen gedachte. Dass Bramante nicht seinen Gehilfen zu seinem Nachfolger gemacht hatte, der weiterhin nur Gehilfe blieb, hatte Antonio verletzt. Bramante hatte ihm zur Geduld geraten – seine Zeit würde noch kommen. »Nach meinem Tod wird das Hauen und Stechen losgehen. Da musst du nicht zwischen die Fronten geraten.« Obwohl die Erklärung seines väterlichen Freundes und Förderers durchaus einleuchtend klang, fühlte Antonio sich dennoch zurückgestoßen und übergangen. Und das fraß an ihm.
Zu Hause angekommen, setzte er sich mit einem mürrischen Gesicht zum Essen. Lucrezia schob den Teller, den sie gerade vor ihn gestellt hatte, beiseite, nahm seine Hände in die ihren und blickte ihm forschend in die Augen: »Welche Laus ist dir denn über die Leber gekrochen?«
»Es ist nichts!«, presste er durch die Zähne hervor und wollte seine Hände zurückziehen, doch sie hielt sie erstaunlich fest.
»Natürlich nicht. Deshalb bist du ja auch von einer geradezu ansteckenden Fröhlichkeit«, sagte sie ernst. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, jeden Ärger von ihr fernzuhalten und sie nicht zu beunruhigen, aber er mochte sie weder belügen, noch konnte er sich ihren Fragen entziehen. Letztlich war er ein viel zu schlechter Schauspieler, um ihr etwas vorzumachen. Lucrezia war zu klug oder sensibel oder beides, um seine rührend hilflosen Ablenkungsmanöver nicht zu durchschauen. Und dann flossen die Worte, der ganze Ärger und alle Sorgen nur so aus ihm heraus, dass Raffael sich nicht um die Baustelle kümmerte und dass er bisher noch keine Gelegenheit bekommen hatte, mit dem neuen Papst über den Fortgang der Arbeiten zu sprechen.
»Ist der Heilige Vater nicht dein Bundesbruder?«
»Schweig!«, fuhr er sie heftig an, weil es ihn erschreckte, wie selbstverständlich sie das große Geheimnis aussprach, wenn auch nur ihm gegenüber. Dann schämte er sich, dass er so heftig geworden war. »Ja, auch Raffael ist es. Aber der Bund existiert nicht mehr. Es gibt keine Zusammenkünfte, keine gemeinsamen Ziele. Leonardo, Pico della Mirandola, Ficino, Landino, Donato, Giuliano und die anderen Baumeister hatten gemeinsame Ziele. Aber was sollte den Papst, Raffael, Peruzzi, meinen Onkel und mich verbinden?«
»Der Bau des Petersdomes«, versetzte sie.
Er senkte nachdenklich den Kopf. Theoretisch hatte sie recht, aber in der Wirklichkeit gestalteten sich die Verhältnisse doch weit schwieriger. Raffael war in der Hauptsache Maler, Baldassare Peruzzi schwamm als Architekt in Aufträgen, Giuliano da Sangallo drückte das Alter so sehr, dass er nur noch seine Projekte zu Ende bringen wollte. Und Leo X.? Giovanni de Medici war eigentlich nur durch eine Laune des Schicksals in den Bund geraten, weil es sein Erzieher damals so wollte. Doch auch Angelo Poliziano hatte nicht vorausgesehen, dass aus dem kleinen Dickerchen Giovanni einmal Leo X. würde. Zudem war der Papst zuallererst ein Medici und fühlte sich an nichts und niemand, nur an den stato seiner Familie gebunden, der er seit Pieros Tod als Oberhaupt vorstand.
»Warum willst du unbedingt etwas vorantreiben? Lass es, bis du mit dem Papst gesprochen hast, auf der Baustelle so laufen, wie es eben läuft. Raffael trägt doch formal die Oberverantwortung, nicht du.«
Ein Lächeln flog über Antonios Gesicht. Er liebte seine junge Frau und bewunderte ihre Klugheit. Auch wenn es ihm schwerfiel, das zu akzeptieren, denn es war seit so vielen Jahren vor allem seine Baustelle, hatte sie in diesem Fall recht. Er trug in der Tat keine offizielle Verantwortung.
»Und was soll ich so lange tun?«, fragte er ratlos, wobei er auf seine Hände starrte, als seien sie plötzlich gelähmt. Lucrezia brach in ein schallendes Gelächter aus. »Das ist es also. Dein ganzer Ärger rührt aus der Angst vor Langeweile. Oh, da weiß ich etwas Schönes. Bau unser Haus um!«
»Ich?«
»Ja, bist du nun ein Baumeister oder nicht?«
»Aber warum sollten wir das Haus verändern?«
»Warum?« Gespielter Zorn funkelte in ihren Augen, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen. Er wusste nur nicht, welches Vergehen ihm vorgeworfen wurde. Sie ließ ihn ein wenig zappeln, wobei sie ihn weiter anblitzte, bevor sie sich zu einer Antwort herabließ, die eigentlich überflüssig war: »Warum? Ich will dir sagen, warum! Weil dieser Palazzo, der wohl für einen lebenslustigen, unverheirateten Mann getaugt hat, wohl kaum die passende Umgebung für ein Kind, für eine Familie abgibt.«
Er war wie vom Donner gerührt. »Soll das heißen, du bekommst ein Kind?«
»Siehst du nicht, wie meine Augen strahlen? Ich bin schwanger, Antonio.«
Er sprang so ungestüm auf, dass sein Schemel nach hinten überkippte. Aber das kümmerte ihn nicht, er hob Lucrezia hoch und wirbelte sie vor Glück im Kreis herum. Dann hielt er plötzlich schuldbewusst inne und setzte sie behutsam wieder ab. »Entschuldige, ich …«
»Dem Kind ist nichts passiert, Antonio«, lachte sie. »Im Gegenteil, es hat zum ersten Mal die Freude seines Vaters gespürt. Es weiß nun, dass es willkommen ist.«
Nachdem Lucrezia eingeschlafen war, stand er mitten in der Nacht leise wieder auf, begab sich in sein Atelier im Erdgeschoss und begann zu skizzieren, wie das Haus, das Lucrezia von Bramante geerbt hatte, zum Palazzo der Familie Antonio da Sangallos umgebaut werden sollte. Als die Sonne durch die Fenster brach, hatte er nicht nur die Pläne fertig, sondern auch die Reihenfolge der Arbeiten festgelegt. Dabei leitete ihn der Grundsatz, dass seine schwangere Frau so wenig wie möglich von den Arbeiten behelligt werden sollte.
Als Lucrezia am Morgen verschlafen ins Atelier trat und sich die Augen rieb, präsentierte er ihr müde, aber glücklich die Vorstellung, wie ihr Zuhause bald aussehen würde. Das Erdgeschoss sollte ausschließlich für die Arbeit genutzt werden, für Atelier und Kontor, außerdem kämen noch die Küche, der Vorratsraum und die Zimmer der Dienerschaft dazu. Im piano nobile war der große Saal für Feste vorgesehen und der kleine Saal für die täglichen Mahlzeiten und das Zusammensein der Familie. Im neu zu schaffenden zweiten Obergeschoss sollten sich die Schlafzimmer befinden, ihres und die der Kinder.
»Kinder?«, fragte sie verdutzt.
»Wir wissen doch jetzt, wie es geht«, neckte er sie gutmütig. »Oder soll ich den alten Kasten immer, wenn du guter Hoffnung bist, wieder umbauen?«