Als Frundsberg auf das Podest kletterte, verließ es der Rotbärtige so rasch, als fege ihn dessen Aura herunter. Kurz hielt sich der massige Söldnerführer an einem Fahnenmast fest, bevor er zu reden begann.
»Männer!«, erscholl sein tiefer Bass. »Ich verlange nicht, dass ihr für mich sammeln geht. Meine Kasse ist so leer wie die eure. Aber«, rief er und machte eine Pause, in der er seinen entschlossenen Blick durch die Reihen seiner Männer wandern ließ, »jeden, der es jetzt wagen sollte, nur einen Laut von sich zu geben, werde ich eigenhändig erschlagen.« Sie alle, die hier standen, wussten, dass er nicht scherzte. Der Alte war ein Bär, ein Raubtier. »Wer jetzt aufgibt, hat sein Todesurteil gefällt. Der Feind belauert uns. Sobald ihr die Hauptleute erschlagen habt, wird er über euch herfallen und eure Kadaver ausweiden. Wollt ihr das? Wer das will, soll sich melden, damit ich ihn fragen kann, wie viel Geld der Franzose dem Judas geboten hat für den Verrat an seinen Kameraden. Warum wollt ihr auf das viele Gold verzichten, auf den märchenhaften Reichtum, der zum Greifen nahe liegt, ihr Trottel? Ihr Hurensöhne, ihr Dummköpfe, Gottes Abschaum, der ihr seid und ich bin, warum greifen wir nicht zu? Warum holen wir ihn uns nicht einfach?«
Es war so still, dass man hätte meinen können, selbst die Vögel in den Bäumen hätten aufgehört zu zwitschern. Wieder schaute Frundsberg in die Runde.
Der Rothaarige fiel auf die Knie. »Herr, wo finden wir den Reichtum?«
Es hatte den Anschein, als flackere ein grimmiges Lächeln in Frundsbergs Augen auf: »In Rom!«
Ascanio wurde schwarz vor Augen. Er wusste, was das hieß – diese ganze Versammlung der Spitzbuben Europas würde wie ein riesiges Rudel hungriger Wölfe über die Ewige Stadt herfallen. Dass eine Stadt geplündert und gebrandschatzt wurde, bedeutete zwar unvorstellbare Qualen für die Bewohner, aber es gehörte nun einmal zum Krieg und war offenbar in Gottes Weltordnung vorgesehen. Aber Rom? Seine Stadt? Das konnte Er nicht wollen. Frundsberg hatte in seiner Not, vom Kaiser im Stich gelassen, keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als die Wut der Landsknechte auf Rom zu lenken.
»Geld! Geld! Geld!«, riefen die Landsknechte und drangen gegen ihre Anführer vor. Sie ließen sich nicht auf einen fernen Ort vertrösten. Sie waren müde, sie waren hungrig, sie wollten ihre Löhnung jetzt. Als Frundsberg sah, dass seine Worte nichts ausrichteten, traten ihm in einem Wutanfall die Augen weit aus den Höhlen. Erst schwankte er bedrohlich, dann fiel er um wie ein gefällter Baum.
Der Schreck fuhr den Männern in die Glieder. Hatten sie ihren Vater verloren? Der Rothaarige beugte sich zu ihm. »Der Schlagfluss. Er lebt, aber er kann nicht sprechen.« Sechs Hauptleute packten den schweren Mann und schleppten ihn zu seinem Zelt. Verwirrt schauten sich die Landsknechte an. Das hatten sie nicht gewollt, denn sie achteten den Söldnerführer. Einer der Hauptleute, ein kühner Mann namens Seidensticker, kletterte nun auf das Podest.
»Seht euch an, was ihr angerichtet habt! Haut auch eure Hauptleute in Stücke, und dann befehlt eure Seele Gott. Denn der Franzose wird euch die Haut vom Leib schneiden! Wie ist es denn? Mal vertragen sich Kaiser, Papst und Könige, mal führen sie Krieg gegeneinander. Egal was, es kostet immer unser Blut. Ich bin es müde, ich bin es leid, für die großen Herren auf die Fleischbank gelegt zu werden. Wenn ich heil nach Hause komme, war dies mein letzter Feldzug. Und dafür brauche ich Gold, Gold, Gold, um nie wieder kämpfen zu müssen! Und in Rom, wo der Papst von goldenen Tellern speist und auf einem goldenen Abtritt scheißt, gibt es Gold im Überfluss, weil aller Reichtum der Christenheit dorthin fließt!«
»Frundsberg wird sterben, wir müssen an uns denken!«, brüllte der Rothaarige in die Runde. »Lasst uns nach Rom ziehen und uns das Gold holen!«
Ascanio saß der Schrecken tief in den Gliedern, und er betete inständig zu Gott, dass der Kaiser oder der Papst zahlen und damit die Katastrophe verhindern würde. Sollte er mitziehen und mitmachen, Handelnder in einem unvorstellbaren Blutbad werden? Das Beste wäre, das Heer zu verlassen. In seiner Vorstellung sah er bereits, wie sich der Zug der ausgehungerten und betrogenen Landsknechte auf die Ewige Stadt zubewegte, in der die einzigen Menschen auf der Welt lebten, die er liebte. Von Bramantes Tod hatte er erfahren. Was aber war mit Lucrezia? Was mit Antonio da Sangallo? Hatte der inzwischen eine Familie? In diesem Augenblick erkannte Ascanio, es war Gottes Wille, dass er sich hier bei diesem Landsknechtshaufen befand. Er hatte nie wirklich daran gezweifelt, sein Entschluss stand fest. Er würde mit nach Rom ziehen, um Lucrezia und Antonio beizustehen. Auch wenn es sein letztes Gefecht werden sollte, er war längst alt genug, um zu sterben. Das Rad der Fortuna drehte sich unaufhörlich weiter und hielt für alle Überraschungen bereit.
Am anderen Morgen schon setzte sich das Heer in Richtung Süden in Bewegung. Aber niemand zahlte. Wie durch ein Wunder blieb Florenz von dem plündernden Heerhaufen verschont, obwohl die Söldner vor Hunger bereits die Rinde von den Bäumen schnitten und unreife Mandeln aßen.
Inzwischen führte Charles, der Connétable von Bourbon, die Truppen. Er war zwar Heerführer des französischen Königs, aber heillos mit diesem zerstritten und deshalb zum Kaiser übergelaufen. Aufhalten oder verhindern konnte er nichts, lediglich als erfahrener Kommandeur die Truppen zum Angriff auf Rom führen.
Ascanio entdeckte die Unsicherheit in den Augen des erfahrenen Generals, der nicht zimperlich war. Wie jeder Hauptmann und jeder Söldner war er nur ein Getriebener. Sie alle befanden sich in einem Sog, dem sich keiner entziehen konnte.
Sorgfältig wie eine Kurtisane, die einen reichen und mächtigen Kunden zu erobern trachtet, streifte die Campagna das Kleid der Nacht über. So hatte sich Ascanio seine Rückkehr nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorgestellt, in einer Gesellschaft, die nichts mehr zu verlieren hatte, deren Feldzug zu einem einzigen Debakel geworden war. Viele waren im Vertrauen auf Frundsberg zum kaiserlichen Heer gestoßen, doch der Söldnerführer lag in Ferrara im Sterben. Fortuna hatte alle taktischen Spielchen vom Tisch gefegt und nur eine Alternative für sie aufgeboten: Gold oder Tod.
In den allzu rasch herannahenden Morgenstunden sollte der Sturm auf den Borgo vom Süden und Westen erfolgen. Der Connétable verzichtete mit seinen erschöpften Truppen wohlweislich darauf, die hohen aurelanischen Mauern überwinden zu wollen. Die Spanier würden die dem Petersplatz gegenüberliegende Porta Pertusa berennen, während die Deutschen die berühmte Porta Santo Spirito angreifen würden, die vom Borgo den Weg nach Trastevere eröffnete.
Ascanio gehörte mit seinen beiden Freunden zum Fähnlein des Klaus Seidensticker.
»Was ist, Bruder?«, fragte ihn Seidensticker. »Angst?«
»Ich habe lange in der Stadt gelebt.«
Seidensticker zuckte nur mit den Achseln. »Wenn es Gott gefällt, wird er uns die Stadt schenken. Wenn nicht, werden wir hier sterben.«
»Gottes Stellvertreter sitzt hier. Er wird es nicht zulassen.« Ascanio glaubte nicht einmal selbst daran, was er zu seiner Beruhigung hervorbrachte.
Seidensticker spuckte aus. »Unser Herr Luther hat uns gesagt, dass in der Stadt nicht Gottes Stellvertreter, sondern Gottes Widersacher sitzt.«
»Du bist ein Lutherischer?«
»Und du? Ein Papist.«
»Die meisten von euch Deutschen sind Lutheraner, die Spanier an der Porta Pertusa Papisten. Und doch kämpft ihr gemeinsam gegen den Papst.« Ascanio schüttelte den Kopf. Ein einziger Irrsinn.
»Und du?«, grinste der Hauptmann.
Ja, was war er eigentlich? »Ich bin Italiener«, antwortete er nach einer langen Pause.
»Dann ist natürlich alles klar«, lachte Seidensticker.