»Richtet die Feldschlangen gegen das Hauptquartier des Teufels!«, rief Seidensticker seinen Leuten zu, nachdem die Deutschen die Päpstlichen von der Mauerkrone vertrieben hatten. In diesem Moment stürmten drei Söldner der Schweizergarde auf den Wehrgang. Ein wilder Kerl hieb auf den blonden Jungen ein und spaltete ihm den Kopf. Das Gold seiner Haare färbte sich rot. Ascanio sah noch den Schmerz in Seidenstickers Augen, dann musste er sich selbst seiner Haut wehren. Niemanden fürchteten die Landsknechte mehr als die Schweizer. Der Hauptmann drängte den Angreifer zurück, während Ascanio kurz in die Augen seines Gegners schaute. Ein junger Kerl, der hier war, weil es Matthäus Kardinal Schiner so gewollt hatte. Und deshalb würde er auch hier sterben. Mit einer Parade schlug Ascanio das Schwert des Gegners nach links, fasste blitzschnell um, sodass der Knauf nun zu seinem Herzen zeigte, und stieß ihm den Stahl in den Hals. Die Waffe zurückziehen und erheben war eins, dann sauste sie schon auf jenen Schweizer nieder, der Seidensticker in Bedrängnis gebracht hatte. Der Hauptmann nickte ihm kurz dankbar zu, dann brüllte er. »So, und jetzt feuert die Feldschlangen ab!«
Die Kanonenkugel schlug kurz vor dem Tegurium ein, der Schutzhütte, die noch Donato Bramante über der letzten Ruhestätte des Apostelfürsten hatte errichten lassen. Der Papst, der seit dem Vorabend eine Etage tiefer in der Krypta unablässig betete, fuhr erschrocken zusammen, verharrte unschlüssig einen Moment, um dann sein Gebet noch inbrünstiger fortzusetzen. Hinter ihm kniete Giacomo Catalano, der verächtlich auf Clemens VII. starrte. Er hätte besser beizeiten gehandelt, als sich jetzt in Fürbitten zu ergehen, dachte der Erzpriester böse. Der Dominikaner vertraute auf Gottes Beistand, aber er hatte in seinem Leben auch die tiefere Weisheit des Satzes »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott« verstanden. Man musste dem Herrn zuarbeiten, ihm einen Anlass zum Eingreifen geben.
Giacomo hasste die Medici, die sich auch dann noch als Kinder des Glücks fühlten, wenn sie das Pech tüchtig einseifte. Er hasste sie, weil sie der Kirche in seinen Augen nur geschadet hatten. Den Anfang gemacht hatte der Magnifico. Lorenzo de Medici hatte die Fedeli d’Amore unterstützt und sein Sohn Giovanni als Papst Leo X. in seiner Prunksucht das Vermögen der Kirche verschleudert. Der Neubau von Sankt Peter kam nicht voran, und die ruinierte alte Basilika zerfiel zusehends. Raffael hatte auch aus Geldmangel nur Pläne, aber wenig Bautätigkeit produziert. Hier und da wurde an den Bögen der Vierung gewerkelt oder eine Stützmauer für die Kuppelpfeiler errichtet, aber seit Bramantes Tod fehlte das vorwärtstreibende Genie. Raffael hatte sich in zu vielen Aufträgen erschöpft, bevor er vor sieben Jahren entkräftet noch jung an Jahren überraschend verstorben war. Und auch Bramantes Schüler Antonio da Sangallo waren keine nennenswerten Fortschritte geglückt. All das war kein Zufall, denn so, wie die Kirche verkam, brach auch die Christenheit auseinander. Leo X. war nicht der Mann gewesen, dem Erzketzer Luther zu wehren.
Lorenzos Neffe Giulio nun, der jetzt vor ihm Gott um Rettung anflehte, hatte nicht wie sein Cousin durch seine Verschwendungssucht Ungemach hervorgerufen, sondern im Gegenteil durch seinen exzessiven Geiz die Tore der Hölle geöffnet. Wohin man bei den Medici auch sah, entdeckte man nichts als Todsünden. Lorenzo hatte der superbia, dem Hochmut, der Eitelkeit, dem Stolz und der Selbstüberhebung, gefrönt, in Giovanni wetteiferten luxuria, die Ausschweifung, mit gula, der Völlerei und Maßlosigkeit, während Giulio ganz als Galan der avaritia, der Habgier und des Geizes, auftrat. Nein, Giacomo hasste die Medici, diese mächtig gewordenen Apotheker aus Florenz, aus tiefstem Herzen.
Plötzlich vernahm er schnelle Schritte, so als ob jemand die Treppe hinunterliefe. Er wandte sich um. War es so weit, würden jetzt die Landsknechtshorden ins Allerheiligste einfallen, plündern und morden und freveln, wie man es von den lutherischen Ketzern nicht anders erwarten konnte? Der Hauptmann der Schweizergarde, Herkules Göldli, stand in der Krypta.
»Heiliger Vater«, rief er gehetzt. Der Papst sah sich ärgerlich um. Man sah ihm an, dass er sich im Gebet gestört fühlte.
»Es ist alles verloren! Der Feind steht im Borgo. In wenigen Minuten wird er die Peterskirche erstürmen. Kommt, wir müssen uns in die Engelsburg zurückziehen. Beeilt Euch, Heiliger Vater. Hier ist keine Rettung mehr!«
»Wir haben Unser Leben in Gottes Hand gegeben«, antwortete Clemens VII. mild. Giacomo ertrug diesen Mann nicht länger, der, vor eine Alternative gestellt, sich immer für das Falsche entschied. Er konnte nicht anders, als den Papst anzuherrschen.
»Eure Heiligkeit, wenn die Ketzer erst hier sind, habt Ihr Euer Leben nicht Gott, sondern dem Teufel anvertraut. Ihr dürft den Häretikern nicht Gelegenheit bieten, Spott mit dem unantastbaren Körper des Stellvertreters Christi zu treiben!«
»Seine Eminenz hat recht, wir haben keine Zeit mehr!«, drängte Hauptmann Göldli. »Noch können wir über den Passetto in die Engelsburg fliehen. Der Kommandant Kaspar Röist kämpft heldenhaft mit hundert Männern am Obelisken, um uns Zeit zu verschaffen. Lange wird er sich gegen die Übermacht nicht mehr halten können! Kommt!«
Clemens VII. verharrte weiterhin unschlüssig mitten in der Krypta. Fast grob schob ihn Giacomo zu Göldli hinüber. »Geht! Tut es für die Kirche! Tut es für Gott.« Niemand merkte, wie viel Überwindung der nächste Satz den Erzpriester kostete. »Ihr seid der Nachfolger des Apostels. Begreift doch, Ihr selbst seid Petrus, Heiliger Vater! Geht. Euer Leib trägt jetzt die Kirche!«
Der Papst nickte betroffen. Was hätte Giacomo anderes sagen können? Zwar hasste er Giulio de Medici, aber er liebte die Kirche, und die beruhte nun einmal auf der ununterbrochenen Sukzession im Petrusamt. Giacomo folgte dem Kommandanten und dem Papst ins Tegurium und von dort in den unbedachten Innenraum der Vierung. Dort standen knapp achtzig Gardisten. Außerdem hatten sich vielleicht zweihundert Menschen aus dem Borgo in ihrer Angst hierher geflüchtet, zumeist Kleriker und ein paar Pilger, die von der Invasion überrascht worden waren. Nur wenige Frauen und Kinder waren darunter – die Familien wohnten in Trastevere und in den eigentlichen Stadtvierteln auf der anderen Seite des Tibers.
»Bitte gebt mir Euer Schwert und Euren Harnisch«, bat der Kardinal den Hauptmann der Schweizergarde.
»Was habt Ihr vor, Eminenz?«
»Meine Kirche zu schützen!«
»Gib ihm, was er verlangt. Gott segne dich, mein Sohn«, sagte der Papst und seufzte tief.
Göldli reichte dem Mann in der einfachen Kutte der Dominikaner das große Kampfschwert und den Panzer. Während sich Giacomo Catalano den Harnisch über sein schwarz-weißes Habit zog, fragte der Hauptmann seine Leute, wer von ihnen sich dem Kardinal zur Verteidigung des Petrusgrabes anschließen wolle. Als sich fast alle meldeten, wählte er vierzig Gardisten aus, die ihn und den Papst begleiten sollten, und ließ die anderen vierzig Gardisten bei Giacomo zurück.
Als der Papst die Zurückbleibenden segnete, schlug mit lautem Krachen eine Kanonenkugel in eine Stützmauer ein und beschädigte sie. Herkules Göldli zog kurzerhand den Stellvertreter Christi mit sich fort. Giacomo wusste, dass sich die kleine Gruppe, sobald sie aus der Basilika trat, nach links wenden würde, um in den Vatikanpalast zu gelangen und von dort über den Geheimgang in die Engelsburg zu fliehen. Er hoffte inständig, dass es dafür noch nicht zu spät war. Mit Giulio de Medici sollte Gott rechten, nicht aber die lutherischen Landsknechte. Er wusste nicht, ob der tapfere Kaspar Röist und sein Häuflein dem Ansturm noch Widerstand zu leisten vermochten oder ob sie längst getötet worden waren. Er konnte nicht wissen, dass die Spanier zu ebendieser Stunde den schwer verletzten Mann im Beisein seiner Frau barbarisch massakrierten.
Während dies geschah, wies Giacomo die Schutzsuchenden an, ins Tegurium zu gehen, sich in der Krypta zu verstecken und zu beten. Dann schaute er in die Gesichter der jungen Schweizer. Gute Jungen aus den Bergen. Er fragte jeden nach seinem Namen, seiner Herkunft.