»Wo ist deine Kippa, Vater?«
»Darum geht es ja gerade.« Die Verspieltheit der Fontäne in dem runden Brunnen passte nicht zu dem ernsten Gesicht des Vaters. »Höre, mein Sohn. Präge es dir ein. Der König will es nicht länger dulden, dass wir der Religion unserer Väter nachgehen. Wir haben in der Gemeinde beraten und beschlossen, dass wir uns zu Jeschua bekennen, den sie Jesus, den Christus, nennen.« Jaume wollte etwas sagen, fragen, es kam ihm so ungeheuerlich vor, doch der Vater gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Wenn du größer bist, dann werde ich dir das alles erklären, aber jetzt, jetzt wirst du mit uns getauft und zu dem Priester Ignazio zum Unterricht gehen.«
Und so geschah es. Jaume wurde getauft und erhielt von einem freundlichen, jungen Priester in der Domschule von Tortosa Unterricht. Die neuen Geschichten von Jesus und seinen Jüngern, von Petrus und Paulus gefielen ihm bald so gut, dass er die alten zu vergessen begann. Mit großem Eifer widmete er sich seinen Studien. Aber statt dass der Vater ihn dafür lobte – schließlich wollte er ja, dass sein Sohn diese Schule besuchte –, bedachte er ihn nur mit einem schmerzlichen Blick. Als beleidige er den Vater mit seinem Eifer. Je mehr Erfolge Jaume im Unterricht vorzuweisen hatte, desto mehr zog sich sein Vater von ihm zurück und sprach weniger mit ihm. Dem Jungen kam es vor, als hätte sein Vater Geheimnisse vor ihm und misstraute seinem Sohn. Das verletzte ihn und entfremdete ihn immer mehr von dem einst geliebten Vater.
Eines Tages forderte der Priester bei der Beichte Jaume auf, von seinem Vater zu erzählen, in welchen Büchern dieser las und wen er traf. Der Junge tat, wie ihm geheißen, dachte sich nichts dabei und wurde wie immer von seinen Sünden losgesprochen.
Jaume hatte die Beichte längst vergessen und begann, mit dem Gedanken zu liebäugeln, in ein Kloster zu gehen, zu den Dominikanern, um ganz dem Herrn zu dienen. Da fand er eines Tages, als er von seinen Exerzitien nach Hause kam, Türen und Fenster offen vor. Mit klopfendem Herzen lief er durch alle Räume, fand aber weder Vater noch Mutter und sein Zuhause verwüstet vor. Der Junge fand keine Erklärung dafür, spürte jedoch eine dunkle Bedrohung. Er rannte auf die Straße zurück. Aufgebrachte Menschen zogen zum Bischofspalast. Er ließ sich mitreißen. Aus den Gesprächen und Wortfetzen, die an sein Ohr drangen, reimte sich der aufgeweckte Junge zusammen, dass die getauften Juden weiter heimlich ihrer Religion anhingen, Ketzerei und Zauberei betrieben. Deshalb würden jetzt die marranos dem reinigenden Feuer übergeben.
Was der Knabe hörte, überstieg seine Vorstellungskraft bei Weitem. Es verschlug ihm den Atem. Einerseits traute er das seinem Vater nicht zu, anderseits erhielt dieser nachts immer wieder Besuch von fremden Männern. Die Eltern glaubten, dass Jaume schliefe, doch er bekam die heimlichen Besuche mit und dass sie dann hebräisch sprachen und in einer Sprache, die dem Hebräischen ähnlich klang, die er aber nicht verstand. Manchmal brachen Vater und Mutter das Gespräch ab, wenn er ins Zimmer kam. Das verletzte ihn. Offensichtlich hatten sie kein Vertrauen zu ihm, schlimmer noch, sie liebten ihn nicht mehr.
Vor dem Bischofspalast ragten aus großen Scheiterhaufen Pfähle, an denen Menschen festgebunden waren. Die Schmerzensschreie drangen spitz und schmerzhaft in sein Ohr. Das Kind hasste in diesem Moment die Menschen für ihre unwürdigen Laute der Qual. Christliche Märtyrer, so hatte er gelesen, starben anders, würdevoller, durch ihr Gottvertrauen. In dem Bewusstsein, aus dem Jammertal erlöst zu werden und gleich dem Herrn zu begegnen, beendeten sie ihr Leben irgendwie heiter.
Durch das lodernde Feuer erkannte er, dass die brennenden Leiber in weiße Kittel gehüllt waren und spitze gelbe Hüte trugen. Der süßliche Geruch verbrannten Menschenfleisches stieg ihm in die Nase, verklebte ihm die Geruchsnerven und schlug ihm auf den Magen. Er hatte nichts gegessen, sonst hätte er sich übergeben, so aber spürte er nur den Brechreiz und spuckte Galle. Dann klopfte ihm das Herz schmerzhaft bis zum Hals. Ob auch Vater und Mutter dort verbrannten? Er kam nicht durch den dichten Kreis der Schaulustigen, die Witze rissen über die Leiden der Menschen auf den Scheiterhaufen.
Langsam verhungerten die Flammen, und der Abend senkte sich über die Stadt. Die Menschen tanzten, sangen und feierten auf dem Platz, weil der Bischof ihnen verkündet hatte, dass ihnen nun, da man die Knechte und Mägde des Teufels verbrannt hatte, keine Gefahr mehr drohe.
Jaume war noch einmal nach Hause gelaufen, wo er voller Angst beobachtete, wie fremde Menschen in sein Haus eindrangen und Möbel und Kleider herausschleppten. Auch seine Bibel und sein altes Schaukelpferd. Papas guter Mantel und Mamas Festkleid. Wie schön sie darin gewesen war. Wie eine Prinzessin aus dem Morgenland. Wie hatte sie der Vater immer genannt, wenn sie dieses Kleid trug? Sulamith.
Diese fremden Menschen stahlen sein Leben. Niemand schützte ihn. Niemand würde es ihm zurückgeben. Der Knabe irrte durch die Straßen, bis er, wie, vermochte er nicht zu sagen, wieder auf dem Platz vor dem Bischofspalast anlangte. Die Wachen, die jene noch glimmenden Scheiterhaufen bewachten, waren längst abgezogen. Er näherte sich den schmutzig grauschwarzen Haufen aus Ruß und Asche. Eine jähe Sehnsucht nach seinen Eltern erfasste ihn. Er wollte nicht glauben, dass seine schöne Mutter und sein starker, kluger Vater sich in eines dieser unansehnlichen Häufchen verwandelt hatten.
Da nahm er plötzlich im Sternenlicht ein Funkeln wahr. Auf Zehenspitzen, um auf nichts zu treten, was einmal Mensch war, balancierte er dorthin und bückte sich. Aus Asche und Steinen fischte er vorsichtig mit den Fingerspitzen einen goldenen Ring mit einem ebenfalls goldenen Aufsatz, den ein schwarzer Stein abschloss. Er wagte es kaum, aber er musste Gewissheit gewinnen, so schrecklich sie auch sein mochte, und hob den Ring gegen das Licht. Das Monogramm seines Vaters, das verriet, dass er ein Levit war, ein Priester, leuchtete dunkel auf. Tränen traten ihm in die Augen, begleitet von einem so heftigen Schluchzen, dass er daran zu ersticken drohte. Den Ring steckte er in seine Hosentasche, dann bückte er sich erneut und streichelte die Asche und die Knochen. Lange tat er das, bis zum Morgengrauen. Dann vertrieb ihn eine Patrouille der Soldaten des Bischofs. Tagelang irrte er durch die Stadt, schlief, wo es sich traf, aß, was er fand. Der Knabe hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren. In ihm kämpften heftig der Schmerz um den Verlust und die Erkenntnis, dass seine geliebten Eltern Ketzer gewesen waren. Aus dem Labyrinth der Wahrheiten und der Pein fand er keinen Ausweg. Gott, der Instinkt oder der Überlebenswille trieb ihn auf ein Schiff, denn in Tortosa würde er am Schmerz ersticken.
Später begriff er, dass er seine Eltern verraten und getötet hatte. Doch auch sie hatten ihn im Stich gelassen, weil sie verstockte Ketzer geblieben waren, statt sich für Gottes Botschaft zu öffnen.
Plötzlich sah Giacomo Licht, und das Licht fiel auf die Ruine der alten Basilika, die er vor sich sah. Dann wurde es erneut dunkel, und er entdeckte wieder seine Eltern. Diesmal aber war er noch sehr klein. Er lernte gerade laufen, indem er zwischen den geöffneten Armen von Mutter und Vater hin- und herstolperte. Sie fingen ihn immer wieder rechtzeitig auf, sodass er nicht hinstürzte. Er fühlte sich sicher, sicher in ihren starken Armen, die ihn hielten, so wie die vier mächtigen Arme der Vierung eines Tages den Himmel tragen würden.
Ohrenbetäubend leise, während er ganz in die Arme seiner Mutter zurückfand, begann er zu singen: »Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah. B’allma di v’ra chir’usei v’jamlich malchusei, b’chjeichon, uv’jomeichon ,uv’chjei dechol beit Jisroel, ba’agal u’vizman kariv, v’imru: Amein. Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und Gesang, Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprechet Amein.«