Выбрать главу

In den Wirren des Umbruchs bangte Michelangelo als Parteigänger und Vertreter der Republik um sein Leben und versteckte sich in der Kirche Santa Maria del Carmine. Dort hatte ihm ein halbes Jahrhundert zuvor, als er mit Contessina die Fresken Masaccios betrachten wollte, ein mittelmäßiger Bildhauerschüler die Nase gebrochen. Ach, Torrigiani! Auch er lebte schon lange nicht mehr; er war vor vielen Jahren in Spanien im Kerker der Inquisition verreckt, wie er von irgendjemand gehört hatte. Wie seltsam das Leben doch war.

Nun versteckten ihn die guten Franziskaner vor der Rache der Medici, und er kämpfte dagegen an, von der Erinnerung an seine erste Liebe übermannt zu werden. »Wenn du einmal Baumeister werden solltest, Michelangelo, dann schaff sie für mich, die Kuppel des Himmels. Als Erinnerung an unsere Liebe«, hatte Contessina ihm damals zum Abschied gesagt, als sie im Florentiner Dom unter Brunelleschis Kuppel standen und meinten, sterben zu müssen. Kurz darauf war er aus Florenz geflohen, aus panischer Angst, für einen Anhänger der Medici und Feind der Republikaner gehalten zu werden. Und nun verkroch er sich, weil er fürchtete, dass man ihn für einen Gegner der Medici, für einen Republikaner hielt. Die Welt fieberte in den Krämpfen des Irrsinns, dachte Michelangelo. Was Cosimo und Lorenzo niemals erreicht hatten, das gelang nun Alessandro de Medici: Er wurde Herzog der Republik Florenz und somit Alleinherrscher. Es sollte noch absurder kommen.

Nach ein paar ungemütlichen Tagen in den Grüften der alten Kirche erreichte Michelangelo die Nachricht des MediciPapstes Clemens VII., dass er dem Künstler nichts nachtrüge und ihn gern wieder in seine Dienste nähme. Sie trafen sich im September 1533 in San Miniato al Tedesco auf dem Gebiet der Stadt Siena, weil sich der Papst weigerte, das treulose Florenz zu betreten. Am Ende ihres langen Gesprächs beauftragte ihn der Pontifex damit, die Altarwand der Sixtinischen Kapelle mit einem riesigen Fresko zu schmücken, nämlich mit dem Jüngsten Gericht. Nach den Erfahrungen, die Clemens VII. persönlich bei dem Sacco di Roma gemacht hatte – erst als Belagerter in der Engelsburg, dann als Gefangener der Landsknechte, schließlich als Emigrant –, musste ihm der Furor der Söldner als wahres Jüngstes Gericht, als Bestrafung der Ewigen Stadt und des Stellvertreters Christi für ihre Sündhaftigkeit und ihren Hochmut vorgekommen sein. Nichts lag also näher, als den Künstler, der die Schöpfungsgeschichte an die Decke gebannt hatte, mit der Freskierung des Strafgerichts an der Altarwand zu beauftragen.

Michelangelo schob diesen Auftrag unwillig vor sich her, denn er mochte sich dieser gewaltigen Anstrengung nicht mehr unterziehen – er war inzwischen fast sechzig Jahre alt. Anderseits konnte er den Auftrag des Papstes, der ihn in Gnade wiederaufgenommen hatte, nicht ablehnen. Also reiste der Künstler unschlüssig zwischen der Arnostadt und der Tibermetropole hin und her, bis der Tod des Papstes endlich Alessandro Farnese, der sich Paul III. nannte, mit der Tiara schmückte. Die Archiconfraternita hatte für den Kardinal Farnese geworben, besonders der Bischof Gian Pietro Caraffa und die zu den Zelanti gehörenden Kardinäle hatten schließlich die Entscheidung im Konklave bewirkt.

Damit waren auch für Michelangelo die Würfel gefallen. In Florenz herrschten zum ersten Mal unbeschränkt die Medici, während der letzte Papst aus ihrer Familie verstorben und an seine Stelle ein Pontifex gerückt war, der Michelangelo heftig umwarb. Hinzu kam, dass sein Vater in diesem Jahr verstorben und damit das letzte Tau gekappt war, das ihn noch an die Stadt band. Fast befreit verließ er die Arnometropole, die eine schwärende Wunde in seinem Herzen blieb und in die er doch niemals mehr zurückkehren sollte. Und als ob sie das wusste, peinigte sie ihn, als er durch die Porta di San Pietro Gatolini ritt, wie eine liebende Mutter in einem letzten verzweifelten Versuch, ihn zu halten, mit den Bildern der Erinnerung an seine frühen Jahre. Er sah sich wieder an der Tafel Lorenzos des Prächtigen, als sie noch alle junge Burschen waren – Piero, Giovanni, Giuliano, der nachmalige Herzog von Nemours und der Liebenswürdigste von allen, sowie ihr Cousin Giulio. Keiner von ihnen war mehr am Leben, auch Ficino nicht, auch Poliziano nicht und auch nicht Landino, der ihn in Dantes »Göttliche Komödie« eingeführt hatte.

Michelangelo zog mit Francesco wieder in den Macello dei Corvi und begann sogleich mit den Entwürfen, während seine Gehilfen die Gerüste in der Sixtina vor der Altarwand errichteten. Anfangs macht er sich widerwillig an die Ausführung, doch die Arbeit zog ihn allmählich mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt immer stärker in ihren Bann. In einer Eruption aus Farben spie er seine Ratlosigkeit in die Welt. Im Mittelpunkt stand ein jugendlicher Christus, der eher an den heidnischen Apollon als an den christlichen Jesus erinnerte. So kraftvoll führte Michelangelo die Geste der Verdammung aus, die in ihrer halbkreisförmigen Bewegung alle Figuren in Aktivität versetzte, dass sich selbst Maria, die Gottesmutter, von ihrem Sohn abwandte, weil sie das Leid und den Schmerz der Verurteilten nicht mit ansehen konnte.

All die Menschen, die Michelangelo malte – Gerechte und Sünder –, versuchten sich so schnell in den Himmel wie in eine sichere Burg zu flüchten, als nahe eine feindliche Streitmacht. Ja, wenn man sie nur ließe, konnten sie gerettet werden! Aber viele ließ man eben nicht. Teufel packten sie und schleppten sie in die Hölle. Und als ob das nicht an sich schon genügte, schlugen die Engel mit den Fäusten auf sie ein und traten mit ihren kräftigen Füßen nach ihnen, um ihnen unter Einsatz der rohesten Gewalt den Eintritt zu verwehren. Er war nicht Raffael, von seinen Engeln ging keine Sanftheit aus, weil er die Lieblichkeit nicht kannte, nur den Ausdruck der geschundenen Welt, wie er sich in der Bewegung der Körper und der wilden Kontraktion der Muskeln offenbarte.

Wenn er in den späten Nachtstunden, vor Müdigkeit beinahe zusammenbrechend, sein Tagwerk betrachtete, erkannte er immer mehr, dass es Dante war, der ihm den Pinsel führte. Wie im Rausch malte sich Michelangelo die Bilder von der Seele, die ihn schreckten und bedrückten. Schmerz, Zorn und Angst überwogen, Freude gab es auch im Himmel nicht. Das ganze Bild handelte von Spannungen, Ruhe fand man nicht einmal im Paradies. Auch dort herrschte nur unerträgliche Aufgeregtheit. All die Seligen und Heiligen bildeten letztlich einen verschreckten Menschenhaufen, unsicher darüber, ob das Gericht nicht auch nach ihnen, die über jeden Zweifel erhaben schienen, greifen würde. Und es ging um alles, nämlich um die Ewigkeit. Das Jüngste Gericht war zugleich auch das letzte Gericht. Zahltag. Gott kannte keine Revision, weil er unfehlbar war. Dafür hatte der Künstler auf Augenhöhe der Betrachter die Hölle gemalt, sodass ihnen die Strafen gleich in den Blick fielen.

Eines Tages, als Michelangelo nach einem langen Arbeitstag wieder einmal kaum noch zu laufen, geschweige denn zu denken vermochte, sondern nur noch fürchtete, verrückt zu werden in der Flut der Visionen, erinnerte er sich an die Pietà, die er fast vierzig Jahre zuvor geschaffen hatte. Sie stand immer noch im Petersdom und hatte wie durch ein Wunder den Vandalismus der Landsknechte überlebt. Während der alte Esel, auf dem er saß, wie von selbst durch die dunkle römische Nacht nach Hause trottete, erschien sie plötzlich vor seinem inneren Auge. Auf ihrem Schoß barg Maria den gleichaltrigen toten Christus. Was er sich damals aus dem Herzen gemeißelt hatte, war nichts anderes als die Pietà seiner Liebe zu Contessina. Er hatte gelernt, dass man die irdische Liebe überwinden musste, wenn man die himmlische Liebe gewinnen wollte, die Gott einzig in der Schönheit offenbarte.