»Herr, es ist Zeit«, rief sein Diener durch die geschlossene Tür. Bittend und auch ein wenig verzweifelt sah er Imperia an. Er wollte sie nur ungern verlassen.
»Geh, wir sind es deiner Frau schuldig.«
Über ihre Treffen hatten sie Diskretion vereinbart und vor allem, dass er weiterhin zu Hause schlief. Damit sie nicht die Zeit vergaßen, war der Diener angewiesen, zur festgesetzten Stunde anzuklopfen.
Chigi leerte den Kelch, dann zog er sich an.
»Hilf Donato, es wird sich für dich lohnen. Sankt Peter kann für uns alle eine Arche werden«, mahnte sie ihn.
Er eilte durch die römische Nacht zu seinem Haus auf die andere Seite des Tibers hinüber. Lange lag er wach und dachte darüber nach, was ihm Imperia über den Petersdom gesagt hatte. Er spürte, dass sie nicht alles gesagt hatte, was sie wusste. Er nahm sich vor, mit seiner Frau darüber zu reden. Über eine Frau befragt man am besten eine Frau. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn eher als gedacht enthüllte ihm Imperia Bramantes ganzen Plan.
Chigi war kaum eingeschlafen, da vernahm er ein heftiges Pochen an der Haustür. Als er die Augen aufschlug, hörte das Hämmern auf und ein anderer Lärm, der an einen Überfall erinnerte, drang ins Haus. Ohne anzuklopfen, stürzte der Diener in sein Schlafzimmer.
»Herr, der Heilige Vater«, stammelte er aufgeregt.
Agostino Chigi richtete sich auf. »Was ist mit dem Papst?« Er konnte nicht glauben, was er vermutete.
»Er wartet in Eurem Kontor auf Euch!«
»Warum hast du ihn nicht in die salà grande geführt, du Schwachkopf?«
»Er hat darauf bestanden. Er sagte, er sei nicht zum Essen, sondern in Geschäften gekommen.«
Chigis Frau regte sich neben ihm. »Soll ich mitkommen?«
»Nein, schlaf, Liebes, schlaf dich gesund!« Er wusste, dass sie unheilbar erkrankt war, und sie wusste es, auch wusste er, dass sie wusste, dass er es wusste. Trotz der Dunkelheit spürte er ihr dankbares Lächeln, denn sie hatten sich geschworen, nie die Hoffnung aufzugeben. Wenn es einen Gott gab, dann war jederzeit ein Wunder möglich. Zärtlich küsste er ihr Ohrläppchen, dann stand er auf und kleidete sich an.
Mitten in Chigis Kontor saß Julius II. ungeduldig auf einem alten Lehnstuhl, dessen Lederbezug schon ein wenig abgeschabt wirkte. Für ein weltumspannendes Unternehmen nahm sich das Kontor geradezu klein, überraschend sachlich und schlicht aus. An den Wänden standen Regale mit Kontorbüchern. Weiter gab es Stehpulte für die drei Schreiber, die Chigi beschäftigte, den Armlehnstuhl für ihn selbst sowie vier Holzschemel für Besucher.
Chigi wollte dem Papst die Füße küssen, wie es der Brauch war, doch Julius II. winkte ab.
»Setz dich, und hör zu!«, befahl er kurz angebunden. Kaum hatte sich der Bankier auf einem Holzschemel niedergelassen, hob der Papst zu einer Rede an. Was er kühn mit Worten malte, verjüngte ihn, weil es das Feuer in seinen Augen entfachte. Chigi staunte, welche Jugendlichkeit und Leidenschaft Julius II. ausstrahlte. Sein ganzes Leben hatte dieser in Erwartung dieses Amtes verbracht. Nie hatte er daran gezweifelt, dass sein Haupt eines Tages die Tiara krönen würde. Selbst in den bitteren Stunden, als ihn Rodrigo Borgia und Ascanio Sforza ausmanövrierten, Rodrigo als Alexander VI. die Cathedra Petri bestieg und er lange Jahre das harte Brot des Exils essen musste, hatte ihn der Glaube an die Mission der della Rovere nicht verlassen. Und nun, wo er es endlich erreicht hatte, war er ein alter Mann. Was er sich vorgenommen hatte, würde er nun nicht mehr alles verwirklichen können. Obwohl ihn alle Welt als Krieger sah, wünschte er sich nichts sehnlicher als den Frieden.
»Aber es muss Gottes Frieden sein, sonst taugt er nichts, sonst ist es keiner. Seit Jahr und Tag fallen die Venezianer in den Kirchenstaat ein und rauben Uns Stadt um Stadt. Wenn Wir einen Friedensvertrag mit ihnen schließen, werden sie das für Schwäche halten und nur umso rücksichtsloser in Unsere Lande einfallen. Allein Gottes Frieden hat Bestand. Deshalb müssen Wir den Kirchenstaat wiederherstellen, unbotmäßige Vasallen empfindlich an ihre Lehenspflicht erinnern und dem Kaiser, dem französischen und dem englischen König ins Gedächtnis rufen, dass sie Diener Christi sind, also auch Diener des Stellvertreters Christi, denn sie haben ihre Herrschaft von Gott, also auch durch und von Uns. Sie zu einen, um sie nach Jerusalem zu führen, wird die zweite wichtige Aufgabe sein.
Ein neuer Kreuzzug ist vonnöten. Wenn Europa befriedet und das Heilige Land befreit sein wird, wenn also Gottes Frieden auf Erden herrscht, dann wird Rom zum zweiten Jerusalem werden, als Stadt des Heils. Und dieses Heil muss den Menschen in die Augen springen. Diese hochheilige Stadt soll das Herz und den Geist der Menschen bilden durch die Werke der Architektur und der Kunst, nämlich durch Gottes Verherrlichung, die sie mit den Sinnen wahrnehmen werden. Erschüttert, gereinigt und geläutert, wenn sie nach Rom pilgern. Die Mitte von Christi Reich aber, ihr spirituelles Zentrum und zugleich den Fels der Macht bildet die Kirche von Sankt Peter. Von Christus über Petrus haben Wir die Aufgabe erhalten, Gottes Statthalter auf Erden zu sein. Das muss und soll die Peterskirche verkünden als geistlicher und herrschaftlicher Mittelpunkt des neuen Reiches. Und weil Unsere Jahre für all das nicht ausreichen werden, wird Unser Neffe Galeotto Unser Werk fortsetzen.«
Der Papst legte eine kurze Pause ein und ließ seine Worte auf den Bankier wirken. Galeotto della Rovere war von seinem Onkel erst kürzlich zum Kardinal kreiert worden. Chigi ahnte, worauf das zielte, zumindest, was seine Rolle in dem Ganzen sein würde.
»Deshalb wird das Grabmal Unseres Onkels und Unser eigenes, das der junge Bildhauer begonnen hat, zum Garant für den Triumph der Kirche. Und genau deshalb soll es auch in der Mitte der Kirche stehen. Dafür muss Platz geschaffen, dafür muss sie ausgebaut werden. Anschließend werden Wir auch die Basilika instand setzen lassen. Nur, mein lieber Sohn, Borgia hat ein Loch in den Kassen hinterlassen. Für all das brauche ich Geld!«
»Ihr wisst, dass meine Bank Euch immer zur Verfügung steht!«, sagte Chigi mit einem leichten Nicken.
Julius II. lächelte hintersinnig und erhob sich. Auch der Bankier wollte aufstehen, aber der Papst legte ihm seine rechte Hand auf die Schulter.
»Wir wollen mehr, Agostino. Deshalb sind Wir zu dir gekommen. Im Vatikan haben die Wände Ohren. Was Wir dir jetzt sagen, soll niemand außer uns beiden je erfahren. Du wirst Unsere Finanzen überwachen. Schick einen Kommissar, dem du vertraust und den Wir als Mönch tarnen, in die apostolische Kämmerei, damit er ein Auge auf die Verwaltung hat. Priester können nicht mit Geld umgehen. Entweder sind sie fromm oder gierig, und keines von beiden ist von Vorteil. Stelle dein Wissen in Unseren Dienst.«
Chigi war überrascht, doch dann erkannte er, dass der Papst sich seiner beiden Achillesfersen durchaus bewusst war, dem fortgeschrittenen Alter und der Finanznot. Bei Letzterer konnte er ihm behilflich sein – zum Nutzen des Papstes und zu seinem eigenen Vorteil. Schließlich hatte auch er nichts von Krediten, die nicht zurückgezahlt wurden, oder von Zinsen, die nicht flossen.
»Ich bin Euer ergebenster Diener, Heiliger Vater.«
Der Pontifex segnete den Bankier, erhob sich und verließ das Kontor.
Colonnata, Anno Domini 1505
Im Rücken der beiden Reiter kräuselten sich die Wellen des Tyrrhenischen Meeres im aufkommenden Abendsturm. Es wäre sicherer gewesen, wenn sie in Carrara den kommenden Tag erwartet hätten, aber Michelangelo hatte sich in den Kopf gesetzt, noch an diesem Tag Colonnata zu erreichen. Je höher sie im Gebirge aufstiegen, umso dichter zog sich der Himmel zu. Die Wolkendecke verschlang das Sternenlicht. Als die beiden Reisenden endlich die enge Bergstraße erreichten, die steil zum Dörfchen anstieg, war die zerklüftete Welt der Apuanischen Alpen vor ihnen bereits in das schwarze Loch der Nacht gefallen. Da man kaum die Hand vor den Augen sah, schwebten sie ständig in der Gefahr, vom Pfad abzukommen und in die Tiefe zu stürzen. Der Wind strich wie ein Dieb durch die Föhren und pfiff um die Klippen. Obwohl im Süden bereits der Frühling Einzug hielt, war es in den Bergen noch empfindlich kühl. Die Mitternacht rückte näher, jene Stunde, in der sich, wie viele glaubten, allerlei Kreaturen, die Gottes Licht scheuten, aufmachten, um in der Finsternis ihr Unwesen zu treiben.