»Herr, was, wenn wir einem Zauberer oder einer Hexe begegnen?«, fragte Francesco.
»Für den Fall helfen ein Gebet und die Klingen unserer Rapiere!«
»Ein Gebet?« Michelangelos Antwort hatte die Angst des Dieners nicht zerstreut.
»Ja, bist du denn etwa kein guter Christenmensch? Wo Menschen nicht mehr helfen können, bleibt uns nur die Hoffnung auf den, der alles vermag.«
Francesco stöhnte, schwieg aber. Sie hofften, endlich anzukommen.
»Kannst du es spüren?«, rief Michelangelo begeistert. Er stand aufrecht in den Steigbügeln und sah auf seinen Diener hinunter, der sich auf dem Rücken seines Pferdes zusammengekauert hatte.
»Was denn, Herr?«, fragte Francesco verständnislos.
Der Bildhauer hob die Nase und sog genussvoll die kalte Luft ein, als sei sie voller Gewürze. »Den Stein!«
»Welchen Stein?«
»Den Marmor. Meine Amme war die Frau eines Steinmetzen. Eine feine Schicht des Gesteins bedeckte immer ihre Brust und die Brustwarze. Deshalb werde ich nie Geruch und Geschmack des Marmorstaubs vergessen können, wenn er in die Nase und auf die Zunge dringt.«
In den kleinen Steinhäusern von Colonnata, die sich an die Felsen schmiegten und deren Umrisse man eher erahnte denn erkannte, brannte kein Licht, weder Öllämpchen noch Kerzen. Die Bewohner des Bergnestes schienen bereits zu schlafen. Fast ausnahmslos lebten sie von der harten und gefährlichen Arbeit, den Marmor aus dem Felsen zu brechen. Dabei gab es nichts Tückischeres. Ganz gleich, wo die Männer arbeiteten, sie waren der Todeskraft des Teufelsgesteins ausgesetzt. Der Staub, der beim Herausschlagen des Marmors aufwirbelte, verschloss mit der Zeit die Atemwege der Arbeiter, sodass ihre Gesichter allmählich eine weißlich gelbe oder grauweiße Farbe annahmen und sie sich schließlich in den Tod husteten. Diejenigen aber, die sich damit beschäftigten, die Gesteinsbrocken mit der Lizza, dem Transportschlitten aus Holz, oder dem Ochsenkarren zu Tale zu bringen, drohte die Gefahr, von dem unberechenbaren Gewicht des Gesteinsblocks zerquetscht oder erschlagen zu werden. Es genügte, wenn ein Hanfseil riss, eine Holzkufe des Schlittens brach oder ein Rad des Karrens und die Unwucht des steinernen Riesen dann wie das blinde Schicksal wütete. Der verhältnismäßig große Friedhof, an dem sie vorbeiritten, legte in aller Stille Zeugnis ab vom Unfalltod der Bewohner, dem sie weit häufiger erlagen als dem natürlichen.
Michelangelo zügelte sein Pferd und sprang ab. Francesco tat es ihm gleich und schrie auf, kaum dass er auf dem Boden gelandet war. Der Bildhauer wandte sich überrascht um, sah aber nur, dass der Diener auf dem linken Bein hüpfte, während er den Fuß des angewinkelten rechten Beines mit seinen Händen umfasst hielt und dabei herzzerreißende Laute ausstieß.
»Du weckst noch die Toten auf!«, fuhr ihn Michelangelo an.
»Mein Fuß war eingeschlafen, und als ich aufkam, schoss mir ein Schmerz wie Feuer durch Mark und Bein«, brachte Francesco zu seiner Entschuldigung vor.
Michelangelo öffnete die Tür der kleinen, aus Felsgestein errichteten Parochialkirche und schritt, von Francesco gefolgt, durch das Schiffchen bis zu dem schlichten Altar, auf dem eine einzelne große Kerze in dem leichten Zugwind flackerte, der durch das Gotteshaus wehte. Sie würde bis zum Morgen halten, bis zur Laudes bestimmt.
Er kniete nieder, senkte den Kopf, verschränkte die Hände und flüsterte: »Herr, erbarme dich all der guten Männer, die im Berg den Tod fanden, und segne unser Vorhaben, denn es geschieht nicht anders als zu deinem Lobpreis.« Nachdem er anschließend ein Vaterunser gebetet hatte, bekreuzigte sich Michelangelo und stand auf.
Plötzlich wurde die Kirchentür aufgerissen. Im Eingang stand ein junger Bursche mit blutverschmiertem Gesicht. Die Augen des Jungen traten ihm fast aus den Höhlen. Die Kleidung hing in Fetzen von seinem geschundenen Körper. Wie eine Wundererscheinung starrte er die beiden Männer an, dann spie er in die Kirche, drehte sich um und lief davon.
»Ein schöner Empfang«, sagte Michelangelo trocken. »Hoffentlich sind die hier nicht alle so!«
Francesco zog unwillkürlich die Schultern hoch. Als sie die kleine Kirche verließen, schlugen sie einen großen Bogen um das am Boden liegende Sputum, als könnten sich daraus plötzlich Schlangen erheben und mit ihren Giftzähnen nach ihnen schlagen.
Das Dorf machte auf sie einen abweisenden, ja feindseligen Eindruck. Ein wenig ratlos folgten sie der hügeligen Straße, die sich zwischen den Häusern aus Felssteinen wand, bis sie auf eine windschiefe Kate stießen, aus der Licht drang. Über der Tür hing ein Schild, vermutlich mit einer Aufschrift, die sie aber in der Dunkelheit nicht zu entziffern vermochten. Michelangelo klopfte kräftig gegen die Tür.
»Wer ist da?«, fragte eine raue Männerstimme.
»Michelangelo Buonarroti, Bildhauer im Auftrag des Heiligen Vaters!«
»Des Heiligen Vaters, soso.« Der Mann hinter der Tür räusperte sich. »Woher soll ich wissen, dass Ihr die Wahrheit sagt?«
»Wissen könnt Ihr es nicht, Ihr könnt es mir nur glauben.«
»Glauben? Ich glaube, dass die Welt voller Betrüger ist und dass es nicht Gottes bester Tag war, an dem er die Welt erschuf. Ach, was soll’s, kommt herein! Schließlich betreibe ich eine Osteria und kein Nonnenkloster.«
Wenig später saßen sie in der schäbigen Gaststube, in der nur ein paar Holztische und -stühle biblischen Alters dösten. Der hagere Wirt brachte ihnen eine Bohnensuppe und einen sauren Roten. Im Raum roch es nach verschüttetem Wein und abgestandenem Schweiß.
Michelangelo wies auf den Platz neben sich, aber der Wirt zog es vor, stehen zu bleiben. Reichlich ungewöhnlich für seinen Berufsstand, gab er sich recht wortkarg, sodass Michelangelo eine erhebliche Energie aufbringen musste, um herauszufinden, wo der Steinmetzmeister Fritz il Rosso wohnte.
»In der Kirche sind wir einem Jungen mit blutigem Gesicht begegnet«, erzählte der Bildhauer.
Der Hausherr wurde blass und bekreuzigte sich. »Das war Giovanni Masciotto.«
»Lasst Euch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«
»Besser man spricht nicht darüber!«, wehrte der Wirt ab.
Michelangelo riss der Geduldsfaden. Er griff nach dem Wehrgehänge, das auf dem Tisch lag, zog sein Rapier heraus und hielt es ihm an die Kehle. »Nun redet schon.«
»Er war der Sohn des Steinebrechers Gasparro.«
»Wieso war?«
»Das ist es ja gerade. Er ist tot.« Michelangelo und Francesco sahen sich verblüfft an.
»Und woher wisst Ihr, dass er es ist?«, erkundigte sich Michelangelo.
»Weil ihr nicht die Ersten seid, die ihn gesehen haben. Es ist nicht geheuer!«
Michelangelo konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Er schob den halb vollen Teller mit der Bohnensuppe zurück.
»Wie kann er tot sein, wo ich ihn gerade gesehen habe?«
»Beantwortet Euch die Frage selbst. Es bringt Unglück, über die Toten zu reden. Und wenn Ihr mich aufspießt, ich sage nichts mehr dazu!«
»Dann erklärt mir wenigstens, wie er zu Tode gekommen ist.«
»Ich zeige Euch Euer Nachtlager«, sagte der Wirt und wandte sich zur Treppe.
Das Nachtlager verdiente seinen Namen nicht. Es bestand aus einem winzigen Verschlag unter dem Dach der Osteria.
»Herr, haben wir ein Gespenst gesehen?«, fragte Francesco, nachdem der Wirt die Tür hinter sich zugezogen hatte und sie sich notgedrungen das einzige Bett im Zimmer teilten.
»Bei Gott ist zwar nichts unmöglich, aber mir schien, dass er sich doch sehr irdisch bewegte, wenn ich die Muskelkontraktion, die sich unter seiner Haut abzeichnete, richtig deute. Gespenster benötigen zur Bewegung keine Muskelkraft. Mir schien der Junge eher verwirrt zu sein. Man sollte ihn finden, bevor er tatsächlich zu Tode kommt.«