»Ihr meint, das Ding war lebendig?«
»Wie du und ich!«
»Geb’s Gott!« Francesco bekreuzigte sich.
Michelangelo drehte sich auf die Seite und wandte seinem Diener den Rücken zu. Angekleidet lagen sie nebeneinander auf dem zweifelhaften Stroh. Über die hauseigenen löchrigen Decken hatten sie noch ihre Mäntel gebreitet. Dennoch froren sie, denn ein kühler Wind pfiff durch die Ritzen. Der Bildhauer schloss die Augen und wärmte sich an seiner Vorfreude auf den Marmor, den er in wenigen Stunden zu sehen bekommen sollte. Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte er sich sofort auf den Weg gemacht. Regen tröpfelte leise auf das Dach, und sie hörten das Heulen der Wölfe, gefährlich und wehmütig zugleich.
»Sie sind hungrig«, murmelte Michelangelo im Halbschlaf und gähnte.
»Gut, dass wir hier sind und nicht draußen in der Wildnis!«, erwiderte Francesco, der noch hellwach war. Aber er bekam keine Antwort.
»Herr«, begann der Diener von Neuem, »man sagt, hier soll es Werwölfe geben.«
»Wo gibt es die nicht? Werwölfe und Gespenster. Sie bevölkern die Nachtseite unseres Verstandes. Jetzt schlaf, Francesco, wir müssen schon bald wieder aufstehen«, brummte Michelangelo noch, bevor er endgültig in den Traum von einer Welt voller Marmor hinüberglitt. Makellos, weiß. Im alten Griechenland soll es eine Bildhauerstadt gegeben haben, Aphrodisias, da wäre er gerne einmal gewesen.
24
Colonnata, Anno Domini 1505
Die Sonne war kaum aufgegangen, als Michelangelo seinen Diener erbarmungslos weckte. Sie hatten nicht länger als drei, vier Stunden geruht.
»Auf! Der Tag rennt, sputen wir uns, ihn einzuholen!«, rief Michelangelo und eilte in die Wirtsstube hinunter. Zum Frühstück gab es Brot und Largo di Colonnata, den berühmten Speck, der hier hergestellt wurde, und als Getränk warmes Wasser mit etwas Honig.
Francesco hatte sein Mahl noch nicht ganz hinuntergeschlungen, da stand Michelangelo bereits vom Tisch auf, wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und eilte aus der Tür. Francesco folgte seinem Herrn, den letzten Bissen Brot im Gehen kauend.
Kurz bevor sie ein verhältnismäßig großes Haus am Ende des Dorfes erreichten, schlug Michelangelo sein Wasser an einer Kiefer ab.
»Tu das auch, nachher haben wir keine Zeit mehr dafür«, befahl er seinem Diener, der dieser Aufforderung mit deutlichem Widerwillen nachkam. Derweil ließ Michelangelo seinen Blick von dem schwarzgrauen Kampanile, der wie ein Burgturm mit Zinnen bewehrt war, hinübergleiten zu den Bergen, die er nun das erste Mal im Hellen sah. Ihr Anblick erschütterte ihn, denn die Unergründlichkeit der steilen Hänge verhieß eine andere Welt, die Welt der großen Mutter, die in ihrem harten Schoß die herrlichsten Steine zur Welt brachte. Wie ein Blitzschlag durchfuhr ihn eine Erkenntnis, die dem Gehirn eines Architekten, nicht dem eines Bildhauers entsprang. Er sah die Kraftlinien, die Wege der Gewalten, die alle Gipfel in den Himmel schoben, ungeachtet der Bruchlinien, die zu Tälern wurden. Michelangelo griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Er erkannte mit einem Mal, dass er Kraft sehen konnte, und diese Fähigkeit würde er aushalten müssen. Die Kräfte kämpften gegen das ewige Lasten der Welt an und damit gegen die allgegenwärtige Tendenz, alles niederzudrücken. Was hatte Gott angesichts der Schöpfung zu ertragen gehabt, als er die Künste in seinem Weltenbau vereinte, die des Baumeisters, des Bildhauers und des Malers! Er hatte allem Gestalt, Form und Farbe gegeben.
In diesem Moment entdeckte Michelangelo das Geheimnis der Baukunst. Es war so verborgen wie offensichtlich. Fand sich das Mysterium der Bildhauerei in der Fähigkeit, die Figur im überflüssigen Stein zu entdecken und sie daraus zu befreien, das der Malerei darin, mithilfe der Zentralperspektive und der Nutzung von Licht und Schatten die dreidimensionale Welt auf dem zweidimensionalen Bildträger zu erschaffen, so ging es in der Architektur einzig darum, die Kraftlinien zu erkennen. Alles andere, Formung und Statik, ergab sich daraus. Aber war das Leben nicht Kraft? Und bestand nicht alle Baumeisterkunst darin, diese Kraft sichtbar zu machen? Und worin verbarg sich nun das Mysterium der Kraft? Ganz einfach – in der Bewegung. Sie erweckte alles, weil das Grundgesetz des Lebens sich in der Veränderung offenbarte.
Michelangelo sank auf die Knie, hob die Hände zum Himmel und dankte Gott. Bei der Betrachtung des nebelverhüllten Gebirges hatte er die Wahrheit des Lebens erkannt, die das Grundgesetz der Kunst war. Kräfte, zum Tanzen gebracht, ergaben das Spiel des Lebens. Plötzlich begriff er, was er mit seinem Entwurf für das Grabmal des Papstes geschaffen hatte: ein Bauwerk als Allegorie auf die Welt. Wenn es auch für einen Toten erdacht war, so sollte es doch für die Lebenden errichtet werden. Er erhob sich und brachte es doch nicht fertig, seine Augen von den Bergen zu lösen. Es war wie eine Sucht. Er konnte sich an dem Gebirge einfach nicht sattsehen. Unter den Bäumen, Pflanzen und der Erde wuchs der heilige Stein, der Anfang und das Ende von allem. Höhlen in den Wänden, Senken, in denen das nach oben strebende Gebirge neue Kraft sammelte. Durch den Nebel und durch Bäume und Gestrüpp verwischte Konturen verstärkten in ihm nur das Gefühl, der großen Mutter, dem Alpha und Omega aller Dinge gegenüberzustehen. Im Zentrum war das Gebirge konkav wie eine Vulva.
Michelangelo fühlte eine außerordentliche Erregung. Sein Gefühl verriet ihm, dass er dort die Steine für die Ewigkeit finden würde. Gleich hinter dem Dorf, näher als er vermutet hatte, reckten sich die Marmorfelsen in den Himmel. Ihre Gipfel waren von Nebel umlagert, der sich nun langsam hob, aber noch über dem Dorf dräute. Feucht und kalt war es, ein Wetter, um sich den Tod in die Knochen zu holen und die Gicht in den Körper.
»Liegt da oben Schnee?«, fragte Francesco erstaunt.
Michelangelo lächelte. »Nein, das Weiße dort, das an dem Berg wie ein erkalteter Fluss aus schmutzigem Silber glänzt, das ist der Marmor, der uns willkommen heißt. Wie züchtig er noch seine Pracht verbirgt, wie ein tugendhaftes Weibsbild seinen Körper vor dem Geliebten! Die schönsten Töchter ehrbarer Männer verstecken sich oft unter der ungelenken Tracht und dem Schleier einer Alten, du erkennst sie nur an den Bewegungen.« Er riss sich gewaltsam von dem verführerischen Panorama los und beendete den Gedanken nachdrücklich, indem er mit der Faust gegen die Tür des Hauses schlug, in dem nach Auskunft des Wirtes der Steinmetz Fritz il Rosso wohnte.
Die Tür wurde aufgerissen, und vor ihnen stand ein stämmiger Mann mit wilden roten Haaren und einem malerischen Bart, der in der Morgensonne wie aus Kupferspiralen gezwirbelt schien. Seine Augen funkelten nicht eben freundlich.
»Seid Ihr Fritz il Rosso?«, fragte Michelangelo.
»Wer will das wissen?«, brummte der Mann feindselig.
»Michelangelo Buonarroti, Bildhauer im Auftrag des Heiligen Vaters!«
So schnell, wie die Tür zugeschlagen wurde, konnte der Bildhauer gar nicht schauen.
Francesco pfiff durch die Zähne. »Oh, der ist ja regelrecht in unseren guten Julius verliebt.«
Michelangelo ließ sich nicht verdrießen und pochte erneut an die Tür. Wieder wurde sie von dem Rothaarigen aufgerissen, doch diesmal hatte er einen riesigen Hammer in der Hand.
»Was habt Ihr gegen den Papst?«, fragte Michelangelo streng.
Der Marmorbrecher erhob drohend das Werkzeug. Unter dem groben Hemd zeichneten sich seine beeindruckenden Muskeln ab, die er in der täglichen Arbeit erworben hatte.
»Gegen den Papst? Nichts! Aber gegen seine Bildhauer, die mit Ablässen statt mit Geld bezahlen. Wie soll ich meine Kinder mit Versprechungen satt bekommen, he?«