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Mit langsamen Bewegungen, als wolle er verhindern, einen scheuen Vogel zu verscheuchen, holte er Skizzenblock und Bleigriffel hervor und begann zu zeichnen. Nur das Krächzen der Raben unterbrach von Zeit zu Zeit die vollkommene Ruhe. Wie der Junge dort hingelangt war, was er dort wollte und weshalb er dort wie erstarrt stand, sah man vom Zittern der Lippen ab, interessierte Michelangelo nicht, auch nicht, welchem Zufall er dieses Bild verdankte. Er zeichnete nur und zeichnete.

Als er die Skizze fertiggestellt hatte, fragte er sanft: »Was ist, mein Junge?« Obwohl der Angesprochene schwieg, spürte Michelangelo, dass er ihn verstanden hatte. Nach einer kleinen Ewigkeit bewegten sich die Lippen, aber es kam kein Ton heraus. Lautlos, er sprach lautlos, er schrie lautlos um Hilfe.

»Ich verstehe dich. Du bereust, was du getan hast.«

»Gott ist schuld!«, flüsterte Giovanni.

»Gott?« Michelangelo fröstelte.

»Gott ist der Teufel!«, krächzte der Junge nun lauter.

Was würde er noch zu hören bekommen? Michelangelos Herz krampfte sich zusammen. Zwar stand es ihm frei, den Jungen schlicht für verwirrt zu halten, aber glaubten nicht die alten Griechen, dass aus dem Mund der Wahnsinnigen die Wahrheit kam, freilich als Orakel?

»Wie konnte er Anna an dem Morgen allein an den Bach stellen? So schön! So schön im Morgenlicht. Wie konnte er nur als Bock in mich fahren?«, brachte Giovanni heiser hervor.

»Wer?«

»Gott!«

»Du meinst doch sicher den Teufel, mein Sohn.«

Giovanni schüttelte den Kopf. »So schön und so rein kann der Teufel nicht sein. Gott hat mich verführt!«

In diesem Moment erklommen Matteo und Francesco den Sporn und traten neben Michelangelo. Als der Bruder des geschändeten Mädchens den Täter erblickte, zog er sofort das Messer und kletterte zu ihm hinunter.

»Nein, nein, tu das nicht, Matteo!«, rief Michelangelo.

Der Junge jedoch sah Annas Bruder unverwandt an und rührte sich nicht. Je näher ihm Matteo kam, umso zärtlicher wurde sein Blick und drückte Einverständnis aus. Ergeben und glücklich wie ein Hund, dachte Michelangelo und schlug die Augen nieder, weil er den Anblick dessen, was nun geschehen würde, nicht ertrug. Es war ein einfaches kurzes Bauernmesser mit einer kräftigen Klinge, mit dem Matteo dem gleichaltrigen Jungen die Kehle durchschnitt, aus der sich ein Strahl roten Blutes über den gelblich weißen Marmor ergoss und ihn färbte. Dem Marmor tat das nichts, man konnte ihn abschleifen.

Michelangelo schüttelte den Kopf. »Giovanni und du, ihr werdet beide im neunten Kreis der Hölle landen, wie Dante es beschrieben hat!«

»Das, Herr, liegt nicht in meinem und nicht in Eurem Ermessen, sondern allein an Gottes Richterspruch.« Matteo bückte sich fast geschäftsmäßig, riss den Fetzen beiseite, der Giovannis Scham bedeckte, trennte ihm mit dem Messer den Penis ab und warf ihn ins Tal. Michelangelo erstarrte, während Francesco sich übergeben musste. Mit seiner blutigen Hand reichte der junge Steinebrecher dem Diener die Weinflasche. Francesco würgte, ehe er nach der Flasche griff und einen großen Schluck nahm und dann noch einen zweiten. Allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.

»Und seine Familie?«, fragte er.

»Die weiß, dass die Welt jetzt wieder im Gleichgewicht ist. So sind unsere Gesetze.«

»Was wird mit seiner Leiche?«

Matteo wies nur mit dem Kopf nach oben, zu den Raben.

»Keine Sorge, Herr«, wandte er sich dann an Michelangelo, »ich bringe ihn woandershin. Er wird Euch nicht beim Arbeiten stören.« Dann bückte er sich und lud sich behutsam den Toten auf die Schulter. »Ach, Vano, warum hast du das nur getan?«, murmelte er dabei mit Tränen in den Augen. »Du warst mein bester Freund, fast wie ein Bruder!«

In der Nacht plagten Michelangelo fürchterliche Traumbilder. Engel, die in die Posaunen der Vergeltung bliesen, der heilige Bartholomäus, der in der rechten Hand ein Messer hielt, das dem Matteos ähnelte und von dem Blut tropfte. In der linken Hand hielt der Heilige eine abgezogene Menschenhaut mit dem Gesicht des Bildhauers. Die Welt war bereits ein einziges Gericht. Michelangelo sah im Traum, wie alle Menschen zum Himmel strebten. Die meisten jedoch wurden ein Opfer der Teufel, die sie in die Hölle rissen. Er schrie so laut im Schlaf auf, dass jedermann im Haus hochschreckte. Zuerst war Francesco bei ihm, der in der Kammer neben ihm schlief.

»Was ist mit Euch, Herr?«, fragte er und beugte sich besorgt über ihn.

Durch seinen eigenen Schrei geweckt, blickte sich Michelangelo verwirrt um, dann fasste er sich.

»Nichts, nichts«, stammelte er.

»Aber Ihr schwitzt ja.« Francesco wischte ihm mit einem Tuch den Schweiß ab und legte die Hand auf seine Stirn. »Euer Kopf glüht!«

In der offenen Tür der niedrigen Kammer erschien die mächtige Gestalt des Steinmetzen. Er musste Kopf und Schultern einziehen, damit er nicht anstieß.

»Den Herrn verbrennt das Fieber!«, rief ihm Francesco mit angsterfüllter Stimme entgegen.

»Ich sage meiner Frau, sie soll kalte Wadenwickel vorbereiten«, entschied Fritz und begab sich hinunter, um das Notwendige anzuordnen.

Eine Woche ging ins Land, in der Michelangelo nur trockenes Brot und moussierenden Wein bei sich behielt. Anna kümmerte sich rührend um ihn, aber sie sprach dabei kein einziges Wort. Und sie lächelte nicht. Der Bildhauer fühlte sich schwach, und jede Faser im Leib schmerzte ihn. Noch immer schrie er, gepeinigt von den Schreckbildern im Schlaf, häufig auf. Man musste um sein Leben fürchten. Sie hatten einen Arzt aus Carrara zurate gezogen, der empfahl, den Kranken mehrmals kräftig zur Ader zu lassen. Fritz behagte das nicht, und so schickte er nach der alten Annunziata, einem vertrockneten Weiblein, das sich in allerlei Dingen des menschlichen Körpers auskannte. Sie riet, den Kranken vor Zugluft zu schützen, warm zu halten und recht viel zum Schwitzen zu bringen, damit der böse Geist, der in ihm hauste und die bösen Träume machte, vertrieben würde. Einmal am Tag solle er heißen Rotwein, mit Grappa, Ei und Honig versetzt, trinken, in den getrocknete Kräuter, Ringelblume, Salbei und Kamille gegeben wurden. Dazu täglich mindestens zwei Liter von einem Tee aus Zitronenmelisse, Johanniskraut und Tausendgüldenkraut.

Michelangelo, dem man ein Bett in der großen Wohnstube gerichtet hatte, fürchtete sich inzwischen vor dem Schlaf, der den Albdruck brachte. Er tat alles, um seine Augen, die immer glasiger und größer wurden, offen zu halten, und vergeudete damit seine letzte Kraft.

Francesco und die Familie des Steinmetzen gaben alle Hoffnung auf und wollten schon nach dem Pfarrer schicken, als Anna sich mit unbewegtem Gesicht zu dem Kranken setzte und ihm einfache, schlichte Weisen vorsang. Es waren Bauern- und Steinmetzlieder, die von Feldern und Wölfen, von den Steinen, von gierigen Pfarrern und gewitzten Bauern, vor allem aber von der Liebe handelten. Michelangelo nahm die Bilder der Lieder mit in den Schlaf, wo sie wie mutige kleine Ritter die Fratzen des Bösen vertrieben. Zum Erstaunen und zur Erleichterung aller fand er allmählich wieder zur Ruhe. Vielleicht begannen auch die Kräuter zu wirken.