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Colonnata, Anno Domini 1505
Michelangelo gönnte sich keine Ruhe. Den Tag über suchte er im Steinbruch nach den besten Steinen, abends arbeitete er weiter an den Entwürfen für das päpstliche Mausoleum, und vor dem Einschlafen las er in Landinos Ausgabe von Dantes »Divina Commedia«. Zuweilen fragte er sich, was ihn an diesem Buch so sehr begeisterte, dass er es immer und immer wieder las.
Eines Morgen dann, als ein Stein mit der Lizzatura zu Tal gelassen wurde und das Seil riss, begriff er es auf schreckliche Weise. Der schwere Block rutschte geschmeidig wie eine Knochenkufe auf dem Eis vom Steinschlitten, sprang über einen Felsvorsprung, änderte dadurch die Richtung und traf auf Matteo, der im Tal stand, um das Verladen des Brockens auf einen Ochsenkarren zu überwachen. Er konnte nicht einmal mehr schreien, so schnell ging es. Durch das Getöse, das der Stein verursacht hatte, gingen die Ochsen durch, und der Kutscher hatte Mühe, hinterherzukommen und sie zum Halten zu bringen. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er Ochsen wie Pferde fliehen, was eigentlich nicht ihrer Natur entsprach.
»Unter Gottes Latschen geraten!«, meinte ein Arbeiter nüchtern. Andere stöhnten oder wandten den Blick ab. Michelangelo eilte hinunter zu Matteo, der ihn mit großen Augen unverwandt ansah. Eigentlich hätte er sie vor Schmerz verdrehen müssen, doch er lag ganz entspannt da, als gehöre sein zerschmetterter Unterleib nicht zu seinem Körper. So war es sicher auch, dachte Michelangelo, als er sich an seine Sektionen des menschlichen Körpers erinnerte. Die Nervenbahnen, die den Schmerz leiten, hatte der Block getrennt oder zumindest abgedrückt, wie ein Druckverband, der ein Verbluten verhindert, wenn eine Pulsader getroffen war.
»Maestro«, flüsterte der Junge, »es ist, wie ich Euch gesagt habe, die Welt muss zurück ins Gleichgewicht finden. Gott hat das Seil gekappt. Jetzt kommt alles wieder in Ordnung. Alle Schulden sind beglichen – Giovanni hat für meine Schwester mit dem Leben bezahlt, und meine Schuld an ihm ist nun ebenfalls bereinigt. Keiner hat mehr Schulden bei keinem.«
Der Bildhauer kniete neben Matteo nieder. Seine Kehle war wie zugeschnürt, er brachte nicht ein einziges Wort hervor. Dann plötzlich flammte Furcht in den Augen des Jungen auf.
»Die Hölle?«, fragte er mit schwacher Stimme, mit dem letzten Ausatmen, das seine Lungen hergaben. »Die Höl…« Sein Mund blieb geöffnet, sein Atem versiegte, und die Augen erkalteten wie unter einer unsichtbaren Eisschicht. Es war der Tod, der Michelangelo aus den erstarrten Augen des Jungen fragend ansah.
Alles, dachte Michelangelo bekümmert, alles stand in Dantes Buch. Es ging um Schuld und Unschuld, um die Ungerechtigkeit der Bestrafung der schuldig gewordenen Unschuld, um die Chancenlosigkeit des Menschen in der Welt und um das Unfasslichste, was es auf Erden gab – um die Gnade. Die »Göttliche Komödie« brachte einen Menschen dazu, an Gott zu zweifeln, aber auch, an ihn zu glauben. Michelangelo spürte es: Hier lag der tiefere Grund, weshalb er von dieser Dichtung nicht loskam, sondern sie immer wieder aufs Neue las.
Der Anblick des unter dem Block begrabenen Jungen, das Bild weißen Marmors und roten Blutes, von Stein und Seele, wühlte ihn so sehr auf, dass es sich in seine Erinnerung einbrannte und seltsamerweise wie eine Zeichnung aus der Komödie des Göttlichen wirkte. Stein und Seele – dieser Frage sah sich der Bildhauer beständig gegenüber. Wie konnte er das tote Material beleben? Wie bekam er das Blut in die Adern seiner Plastiken?
Neben ihm kniete Fritz nieder. Er knautschte seine Mütze in der linken Hand, mit der rechten schloss er seinem Sohn die Lider, auf denen seine Hand eine dünne weiße Staubschicht hinterließ.
»Es ist nicht recht, wenn die Söhne vor den Vätern gehen«, sagte er tonlos, bevor er in ein langes Schweigen verfiel. Keine Träne, keine Klagen. Michelangelo beobachtete den Steinmetz dabei, wie tief in seinem Innern die Trauer ihren Vernichtungsfeldzug führte.
Und noch etwas geschah, das Michelangelo berührte. Am Grab ihres Bruders kehrte das Leben in Anna zurück. Tränen rannen aus ihren Augen. Als ob ein Bann gebrochen wäre. Hätte er noch einmal seine Pietà zu erschaffen, dachte der Bildhauer, dann würde er der Jungfrau Maria das Antlitz dieses Mädchens aus Colonnata verleihen.
Als sie auf dem großen Friedhof des kleinen Dorfes standen und der Sarg Matteos in den Felsenboden gelassen wurde, nahm er Anna voller Mitleid in die Arme. Sie krallte ihre Hände schmerzhaft in seine Seiten, aber sie ließ seine Umarmung geschehen.
»Die Sonne scheint weiter am Tag«, flüsterte er ihr ins Ohr, »und nachts leuchten weiter die Sterne, und du wirst von Tag zu Tag schöner. Lebe, denn auf Erden gibt es keine Gerechtigkeit.«
»Nie?«, fragte sie leise und wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu. Hatte er sich das eingebildet? Niemals zuvor hatte er ihre Stimme vernommen. Ihr Blick verriet ihm, dass es keine Täuschung war.
»Erst beim Jüngsten Gericht.«
»Da wird dann Gerechtigkeit sein?«, flüsterte sie.
Was wusste er denn? »Ich hoffe es, ja.«
Deshalb las er immer und immer wieder Dantes Werk, weil es ihn zu wissen verlangte, ob am Jüngsten Tag tatsächlich Gerechtigkeit walten würde. So groß wie seine Hoffnung war indes sein Zweifel.
Das Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Michelangelo kümmerte sich nicht weiter um Anna, nahm aber erleichtert zur Kenntnis, dass sie wieder zu reden begann und allmählich ins Leben zurückfand. Eine unerklärliche Unruhe erfüllte ihn und trieb ihn an.
Eines Morgens trat er früher als gewöhnlich aus dem Haus. Das Mädchen stand vor ihm und beobachtete zwei Zeisige, die sich um eine Mandel stritten. Plötzlich begann sie zu kichern, wie nur Mädchen zu kichern verstehen, vergnügt und verhalten, wild und zurückhaltend, frei und froh. Er konnte sich kaum an ihrer Freude sattsehen, rief sich aber bald zur Ordnung und machte sich auf den Weg zu den Steinbrüchen.
Er hatte es nun eilig, denn zum Jahreswechsel wollte er wieder in Rom sein und mit dem Grabmal beginnen. Nachts arbeitete er an der Skizze eines sitzenden Mannes für seine Figur des Moses und staunte, als das Gesicht des biblischen Propheten immer mehr die Züge des Steinmetzen Fritz il Rosso annahm. Nicht lange darauf begann er, den Marmorblock zu bossieren, den er für den sitzenden Moses vorgesehen hatte. Es war derselbe Stein, vor dem Matteo den unglücklichen Giovanni getötet hatte, derselbe Stein, von dem er schließlich erschlagen wurde.
Nach der Auswahl der Steine musste Michelangelo nun auch den Bruch des Marmors überwachen. Um die Blöcke aus dem Felsen zu schlagen, trieben die Arbeiter Holzkeile in den Berg, die sie immer wieder ordentlich wässerten. Durch die Spannungen des arbeitenden Holzes wurde der Block regelrecht aus dem Gestein herausgesprengt. Der Bildhauer kontrollierte, ob dadurch Risse entstanden waren. Einen beschädigten Stein, der sich später als unbrauchbar erweisen würde, nach Rom zu schaffen, wäre reine Geldverschwendung gewesen. Und ein Mann wie Michelangelo, dem an sich schon jegliche Ausgabe verhasst war, konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als Geld für nichts und wieder nichts auszugeben. Kräftig drückte er die Löhne der Arbeiter im Steinbruch und die Preise für den Transport und die Verschiffung des Marmors. Er wusste, dass er auf seine Steine wie auf kleine Kinder aufpassen musste. Bis sie endlich in Rom angekommen sein würden, bedeutete jede Station auf der Reise eine Gefahr.