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Rom, Anno Domini 1505

Wenn die Abendsonne ihre langen Strahlen freundlich vom Westen her über das Forum Romanum schickte, zog es die Bauern mit ihren Kuhherden nach Hause. Sie wussten nicht, dass sie ihr Vieh auf dem einstigen Mittelpunkt der Welt weideten und nannten den Ort daher nur Campo Vaccino, Viehweide. Doch unbelebt war der wüste Ort nicht. Es wechselte nur die Klientel.

Pünktlich mit Einbruch der Dunkelheit ließ sich beim Triumphbogen des Titus in der Nähe des Kolosseums allerlei lichtscheues Gesindel nieder, Mörder, Diebe, Falschspieler, Dirnen und Strichjungen. Sie lagerten um ein großes Feuer, das ein Loch aus Licht in die wolkenverhangene Nacht riss. Zu ihnen trat ein Mann, der in einen schwarzen Mantel gehüllt war. Sein schmuckloses Barett hatte er tief in die Stirn gezogen. Unter dem Mantelsaum lugte die Spitze eines Rapiers hervor – wer sich um diese Zeit in diese Gegend wagte, trug besser Waffen. So gewandet sah Giacomo il Catalano aus wie ein spanischer Edelmann und nicht wie ein Dominikaner.

»Ah, der ist etwas für mich«, schnurrte eine zahnlose Alte und grinste ihn frech an.

»Hast genug Männer im Leben verbraucht! Für dich ist keiner mehr dabei«, fuhr sie ein Spitzbube mit kräftiger Statur an und stand auf. Er tippte seinen Nachbarn an, der sich ebenfalls erhob und mit dem Kräftigen auf Giacomo zutrat. Obwohl sie unter freiem Himmel kampierten, stank es nach billigem Fusel, abgestandenem Schweiß und Urin. Nach der Abfuhr, die sie sich geholt hatte, ging die Alte dazu über, sich den Grind vom Finger zu kratzen, und schnitt dabei unablässig widerwärtige Grimassen. Aus den Augenwinkeln nahm der Kardinal mit Abscheu ein Menschenknäuel wahr, das sich ungeniert in aller Öffentlichkeit vergnügte. Ihre Laute der Lust erinnerten ihn an das Quieken von Ferkeln.

»Die Himmelfahrt des kleinen Mannes …«, sagte der Kräftige mit rauer Stimme und stieß seinen Kumpan grinsend mit dem Ellenbogen in die Seite. »Verübelt es ihnen nicht, Herr.«

Giacomo verzichtete darauf, den Mann zurechtzuweisen, dessen Geschäft im Auftragsmord und nicht in der Aufrechterhaltung der allgemeinen Tugend bestand. All jene, die um das Feuer kauerten, lebten auf Erden ja bereits in der Hölle. Erlösung kam für sie nicht infrage, sie würden lediglich von einer Hölle in die nächste wechseln. Giacomo wandte sich um und hielt zielstrebig auf das Kolosseum zu, das er, gefolgt von den beiden bravi, schließlich durch den eingefallenen Haupteingang betrat.

Aus dem einst so stolzen Ort der Spiele, der römischsten aller römischen Religionen, dem Heiligtum der Heiden, wie er verächtlich dachte, war eine Art Steinbruch geworden, aus dem sich jeder Bauherr den Marmor und auch die Säulen für seinen Bau holte. Recht geschieht ihm, dachte er verächtlich. Dennoch wirkte die Ruine, die zum Teil über vier mächtige Etagen weit in den Himmel ragte, stolz und trotzig, immer noch wie ein Stachel im Fleisch des christlichen Rom. Auch deshalb bestand Giacomo als Leiter der Dombauhütte darauf, dass man das Material zur Ausbesserung der Basilika von Sankt Peter aus dem steinernen Fleisch des heidnischen Monuments schnitt.

Unter der ehemaligen Kaisertribüne blieb er stehen und schaute auf die schwarze Arena. Sie wirkte wie ein unheilvoller Schlund. Hier war Blut geflossen, von Menschen und von Tieren, Abend für Abend, zur Unterhaltung der Römer. Das hatte sich tief in das Gedächtnis der Romano di Roma eingebrannt. Noch heute liebten sie blutige Schauspiele wie öffentliche Hinrichtungen über alles. Aus diesem Grund gerieten auch die alljährlichen Passionsspiele recht naturalistisch, starb Christus jedes Jahr in Rom unter Anteilnahme des popolo im Kolosseum.

»Womit können wir Eurer Hoheit diesmal zu Diensten sein?«, fragte der mit der kräftigen Statur und der rauen Stimme. Der Kleinere mit dem viereckigen Schädel schwieg.

»Ihr kennt den Architekten Bramante?«, begann Giacomo.

»Kennen, nein. Aber gesehen haben wir ihn schon. Ein richtiger Stier!« Die grauen, unter buschigen Augenbrauen fast verborgenen Augen blitzten anerkennend auf.

»Er trägt einen goldenen Ring mit einem schwarzen Aufsatz, den ein blauer Stein abschließt, an seinem rechten Ringfinger«, fuhr Giacomo fort.

Der Auftragsmörder mit der kräftigen Gestalt nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, der andere zeigte keine Reaktion.

»Nehmt ihm den Ring ab. Wie, ist mir egal! Und wenn ihr dabei den Finger mit abschneiden müsst!«

»Der Ring ist bereits Euer, Herr!«

»Aber tötet ihn nicht«, ermahnte Giacomo die beiden bravi. Noch schreckte er davor zurück, den Tod des großen, aber leider heidnischen Baumeisters in Kauf zu nehmen.

Giacomo hatte mit den Brüdern der Archiconfraternita über Bramante gesprochen. Dieser wollte wie er selbst verhindern, dass Michelangelos heidnischer Entwurf zur Ausführung gelangte. Und dagegen, dass die Basilika vergrößert und saniert werden würde, hatte er ebenso wenig einzuwenden wie gegen den Anbau eines Kuppelgebäudes. Nur durfte nicht anstelle eines Langhauses ein Zentralbau errichtet werden, der die Erinnerungen der letzten zwölfhundert Jahre tilgte und ein zweites Pantheon entstehen ließ, was für den Dominikaner den späten, heimtückischen Sieg des Heidentums bedeutet hätte. Und Giacomo traute Bramante nicht. Die Mitglieder der Erzbruderschaft hatten beschlossen, dem Architekten sehr genau auf die Finger zu sehen, denn schließlich gehörte er zu den Fedeli d’Amore.

Fast wünschten sich die Brüder das Pontifikat des Borgia-Papstes zurück. Wie einfach waren doch die Zeiten unter Alexander VI. gewesen! Damals hatte es zumindest klare Fronten gegeben – auf dem Stuhl Petri saß der Antichrist. Heute war das anders. Sosehr man Julius II. wegen seiner Vorliebe für die Antike verabscheute, so sehr stimmte man mit ihm überein, dass der Kirchenstaat erweitert und konsolidiert werden musste. Es war nicht hinzunehmen, dass sich mittlere Mächte wie die Neapolitaner oder die Venezianer am Reich des Papstes vergingen, päpstliche Städte in ihren Besitz brachten und die Großmächte wie der Kaiser, der französische und der spanische König ihren Kampf um die Vormacht im Abendland in Italien ausfochten. Allen ging es nur um Macht, niemandem um Christus, ganz gleich, ob sie sich »Allerchristlichster König« oder »Katholischer König« nannten. Nur der deutsche König und römische Kaiser Maximilian träumte davon, Kaiser und Papst in einem zu sein. Die Vorstellung eines Wahnsinnigen!

Dass die weltlichen Großen nichts anderes waren als Lehnsherren des Stellvertreters Christi, hatten sie gründlich vergessen. In dieser Auffassung waren sich die Brüder mit dem Papst einig. Auch gefiel ihnen die Aussicht, durch einen neuen Kreuzzug das Heilige Land und Byzanz zu befreien. Es lag ja erst ein Menschenalter zurück, dass Sultan Mehmed II. mit seinen muslimischen Horden Konstantinopel überrannt und dem einst so stolzen Ostrom, das allerdings schon seit geraumer Zeit ins Taumeln geraten war, den Todesstoß versetzt hatte. Die Erinnerung an den bittersten aller Tage, an dem die Schwester des Petersdoms, die Hagia Sophia, geplündert und in Brand gesteckt worden war, steckte allen noch in den Knochen – den ganz Alten aus eigenem Erleben, den Jüngeren durch die Schreckensberichte der Älteren.

Alles in allem hatte die Erzbruderschaft ein zwiespältiges Verhältnis zu Julius II.: Die Brüder verachteten die heidnischen Gelüste des Kriegerpapstes, stimmten jedoch mit seinen kirchenpolitischen Zielen überein. Dieses Dilemma fraß an ihnen. Sie konnten nicht völlig für ihn sein, sie durften nicht gegen ihn sein. Ähnlich verhielt es sich mit dem Günstling des Papstes, dem Architekten Donato Bramante. Im Grunde verabscheuten sie ihn, aber vielleicht konnten sie ihn für ihre Zwecke benutzen, eher noch als den jungen Bildhauer aus Florenz.

Giacomo ging es in erster Linie um den Ring, doch das war seine Privatangelegenheit, von der die Brüder nichts zu wissen brauchten. Es war das Einzige, was ihm von seinem Vater geblieben war, den er einst ans Messer geliefert hatte. Es waren schwere Zeiten damals, und er war noch ein Kind gewesen. Ach, hätte er doch beichten können – aber wem? Er hatte das Richtige und das Falsche zugleich getan, eine große Sünde begangen, um eine andere große nicht zu begehen. Wie sollte er je aus diesem Teufelskreis herausfinden? Gott prüfte ihn hart und grausam. Er spürte instinktiv, dass es dabei nicht um Vergebung ging, sondern dass ihm die ewige Verdammnis bevorstand.