»Pico della Mirandola war ein schlimmer Ketzer, ein Verführer.«
»Er war der klügste Mensch, den ich in meinem langen Leben kennengelernt habe.«
»Darin finde ich keinen Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe. Im Gegenteil, seine Klugheit machte ihn so gefährlich. Mit seinem Tod zerfiel Euer Ketzerbund. Und jetzt gebt mir meinen Ring zurück!«
»Was ist so Besonderes daran?«
»Das werdet Ihr niemals erfahren!«
Der Baumeister wog den Kopf, als dächte er nach, dann zog auch er sein Rapier.
»Gebt mir vorher Euer Leben, dann will ich den Ring mit Euch beerdigen. Das schwöre ich bei allen Göttern Roms.« Mit dem Schwur bei den heidnischen Göttern bezweckte Bramante, Giacomo zu provozieren. »Zu den Fischen mit Euch, zu den Fischen. Das wird eine nasse Sache werden, in der ich meine kranke Seele baden und heilen werde.« Verliebt betrachtete er die kalte Klinge seines Degens und beneidete sie darum, im Körper des Erzschurken das tödliche Vernichtungswerk ausführen zu dürfen. Wie gern hätte er selbst in den Eingeweiden dieses Giftmörders gewütet und ihm mit eigenen Händen die Organe herausgerissen!
Plötzlich trat einer der Männer aus der Gruppe, die um das Feuer saß, zwischen den Architekten und den Kardinal. Die beiden Herren, so bat er inständig, sollten ihren Streit doch an einem anderen Ort austragen. Hier könne man keine Scherereien gebrauchen. Bramante und Giacomo starrten überrascht auf den verlumpten Mann, der mit ausgestreckten Armen und nach oben gedrehten Handflächen zwischen ihnen stand, bittend, ein Friedensstifter. Recht hatte er, den Tod des Kardinals oder des Baumeisters würde man diesen Leuten in die Schuhe schieben. Aus Sicht der Obrigkeit gaben sie die idealen Sündenböcke ab, denn niemand würde für den Mord an dem Kardinal den Baumeister des Papstes verantwortlich machen oder das gewaltsame Ableben des Kardinals mit dem Architekten in Verbindung bringen. Giacomo musterte erst Bramante, dann seinen Begleiter. Ein verzerrtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Die beiden bravi waren angewiesen, Euer Leben zu schonen. An diese Rücksichtnahme fühle ich mich nicht mehr gebunden.«
Bramante spuckte aus.
»Und du«, wandte sich Giacomo mit scharfer Stimme an Ascanio, »überlege gut, ob du einem Häretiker helfen willst. Wenn du dich gegen mich stellst, wird es ein schlimmes Ende mit dir nehmen.«
Bramantes Leibwächter verzog nur verächtlich den Mund und hob drohend sein Rapier. »Der Degenstoß, der mich ins Jenseits befördern wird, ist bereits im Himmel beschlossen. Daran könnt nicht einmal Ihr als Kardinal etwas ändern. Wir können den Tod weder suchen noch ihm entfliehen, er findet uns.«
»Was macht dich so sicher, dass es kein Scheiterhaufen sein wird?« Giacomo wollte Ascanio einschüchtern, aber dieser lächelte nur und schwieg.
»Ihr seid des Todes, Donato, und du auch, Messèr Schlagetot! So oder so.« Giacomo steckte den Degen ein und verschwand in der Dunkelheit.
Bramante wollte ihm hinterherstürzen, diese Gelegenheit konnte er sich unmöglich entgehen lassen, da schlug er der Länge nach hin. Im gleichen Moment landete Ascanios Faust im Gesicht des Friedenstifters, der Bramante ein Bein gestellt hatte. Der Mann wankte, dann sagte er mit leiser, aber fester Stimme: »Verzeiht, gnädiger Herr, aber ich sagte, nicht hier!«
Bramante erhob sich ächzend und wollte seine Wut an dem Lumpenmann auslassen, doch Ascanio hielt ihn zurück.
»Der Mann hat recht, Messèr Donato!«
Der Baumeister steckte den Degen ein. Wenigstens kannte er nun den Mörder des Grafen. Der Weg zur Rache war offen, er würde sich Zeit lassen. Zuerst wollte er den Dom errichten, um zu zeigen, dass die Fedeli noch lebten, auch wenn ihr Haupt deshalb ermordet worden war. Im Stillen schmiedete Bramante den Plan für sein Vernichtungswerk: Erst würde er den Kardinal töten, dann den Menschen. Manchmal war es gut, wenn die Karten offen auf dem Tisch lagen. Und er machte sich keinerlei Illusionen darüber, wie sich der Dominikaner verhalten würde. Giacomo il Catalano konnte nicht dulden, dass es Menschen gab, die wussten, dass er der Mörder des Grafen Giovanni Pico della Mirandola war, des größten Philosophen seiner Zeit.
29
Carrara, Anno Domini 1505
Der Regen walkte die Haut des Marmors, die Rücken der Arbeiter und die Gesichter der Seeleute unbarmherzig durch und scheuerte die Planken der kleinen caracca, die auf den Hafenwellen schaukelte. Das Schiff konnte sein Alter kaum verbergen, die Planken wirkten tüchtig seegegerbt. Michelangelo hatte natürlich den Reeder gewählt, der den geringsten Preis für den Transport verlangt hatte. Es war ihm gelungen, den Abbruch und Transport der Steine für fünfhundertfünfzig Dukaten zu erlangen.
Von den restlichen tausend Dukaten aus der päpstlichen Anzahlung hatte Michelangelos Vater ein schönes Landgut erworben. Dieses sollte der Grundstock des Imperiums aus Grundstücken und Gebäuden werden, das Michelangelo zu errichten gedachte, um für sich und seine Familie den angestammten Platz in der Gesellschaft zurückzuerobern. Nie hatte er vergessen, weshalb er sich von Contessina trennen musste, nie den Schmerz über die Deklassierung überwunden.
Deshalb hatte er mit der gut einhundertfünfzig Jahre alten caracca vorliebgenommen. Obwohl es längst auf Mittag zuging, blieb es unter der schwarzen Wolkendecke dunkel. Seit Tagen hatten sie kein Sonnenlicht gesehen. Die großen Steine wurden mithilfe eines aus Balken errichteten Kranes verladen, an dessen schwenkbarem Arm eine Seilwinde hing, in der Taue zusammenliefen. Der Kran, der einem nackten Baum glich, schwankte ein wenig unter dem Gewicht des Quaders, während sie die wertvolle Last vorsichtig in den Bauch des Dreimasters hinunterließen. Nun lag nur noch ein Quader am Verladeplatz, ein riesiger Block. Langsam zogen die Arbeiter den Koloss mittels der Winde hoch. Je höher sie ihn hievten, umso bedenklicher ächzte und wankte der Kran. Auf dem Achterkastell stand der Steuermann und sah dem Verladevorgang mit unbewegter Miene zu. Der Kapitän, der mit dem Rücken am Großmast lehnte, brüllte: »Langsam, langsam, langsam, ihr Hundesöhne! Wenn der Brocken aus den Seilen gleitet, zerschlägt er mir den Steven und die Planken. Langsam, hab ich gesagt! Ihr kommt noch früh genug auf eure Frauen!«
Wie von Geisterhand getragen schwebte der Block in den Schiffsraum. Sie mussten verhindern, dass er zu pendeln begann, denn dann würde er außer Kontrolle geraten. Michelangelo ging über einen abgewetzten Laufsteg an Bord und trat neben den Kapitän, einen rothaarigen Kerl mit einer bläulichen Knollennase, untersetzt und muskulös.
Hingerissen betrachtete der Bildhauer die vierzehn Steine, einer schöner als der andere, die ersten, die er auf ihrem Weg nach Rom begleiten würde. Die anderen kämen bald schon nach. Aus ihnen würde er die Siegesgöttinnen meißeln. Man konnte es ahnen, denn er hatte sie bereits im Steinbruch vor dem Transport bossiert. Den Abschluss bildete der Koloss, aus dem er den Moses erschaffen wollte. Langsam senkte sich der vorbearbeitete Marmor hinab, verfolgt von Michelangelos zärtlichem Blick.
Er sah nicht den Quader, er sah bereits die fertige Figur, die er bald schon aus dem Stein befreien würde. Der erste Gesetzgeber. Mehr noch, der erste Mensch, der Gott wirklich begegnet war auf dem Berge Sinai. Mensch und Gott, was für eine atemberaubende Situation. Es musste ihn verändert haben. Und so wollte Michelangelo ihn erschaffen, sitzend, in der Ruhe des Mannes, der alles schon erlebt hat und der nicht mehr zweifelt und nichts mehr fürchtet, der die große und verzehrende Menschenangst vor dem Tod hinter sich gelassen hat, weil Gott in ihm lebt. Wonach Mystiker seit vielen Jahrhunderten strebten und ihr ganzes Leben dafür gaben – Gott persönlich gegenüberzustehen, ihn zu schauen, sich mit ihm zu vereinen –, das war ihm gelungen. Was hatte Gott auf die Frage, wer er sei, geantwortet? Ich bin, der ich bin. Genauso würde der Bildhauer seinen Moses erwecken, als denjenigen, der ist, wer er ist. Michelangelo lächelte. War es nicht das, was die Philosophen und die Theologen das Wesen oder die Substanz nannten: das zu sein, was es ist. Er konnte es in der Tat kaum erwarten, in Rom einzutreffen und endlich anfangen zu dürfen. Manchmal ertappte er sich dabei, dass sich seine Hände rührten, als hielten sie Hammer und Meißel und würden nun die Skulptur aus der Luft schlagen.