Der Kapitän kletterte aus dem Laderaum und rief die anderen Matrosen, einschließlich des Steuermanns, herbei. Gemeinsam schafften sie es Zug um Zug, den Stein zurückzuschieben. Sie benutzten Holzkeile, um ihn zu fixieren. Nun mussten sie ihn nur noch mit Seilen festbinden. Da traf sie eine Woge von rechts mit voller Wucht. Die Keile brachen wie Halme, und der Stein setzte sich erneut in Bewegung. Geistesgegenwärtig stellte der Kapitän seine Bohle gegen einen Stein und legte sie mit der anderen Seite an die Oberkante des Laderaumes, zwei Matrosen taten es ihm gleich. So krachte der Fels gegen die Balken, die ächzten, aber noch standhielten. Wieder drückten sie mit Balken den Brocken in seine alte Lage zurück. Diesmal gelang es, ihn zu fixieren und zu vertäuen. Obwohl sie völlig ausgelaugt und erschöpft waren, dachte keiner an Ausruhen. Den Kampf gegen die Gewalten hatten sie keineswegs gewonnen. Keine Minute zu früh kletterte der Steuermann aus dem Laderaum, um zu seinem Steuer zurückzukommen. Das Schiff raste auf die Insel Gorgona zu.
»Wenn ich auch nur einen Mann verloren hätte«, raunte der Kapitän Michelangelo mit versteinerter Miene zu, »ich hätte Euch erschlagen!«
»Der Versuch wäre Euer sicherer Tod gewesen!«, gab der Bildhauer ruhig zurück.
Von der Insel sahen sie kaum etwas, und im Tosen des Sturmes ging auch das Geräusch der Wellen unter, die an den Klippen der Felseninsel zerbrachen.
Erst in der Nacht legte sich das Unwetter endlich. Michelangelo und Francesco fanden nach dem Abendessen, das aus Wein und Zwieback mit etwas Käse bestand, auf den Francesco verzichtet hatte, in ihrer Kajüte im Bauch des Achterkastells ein wenig Ruhe. Während der Bildhauer nach einem kurzen Gebet sofort einschlief, flehte der Diener die Muttergottes an und setzte mit den Bußpsalmen fort, bis auch ihn irgendwann der Schlaf einfing.
Der nächste Morgen konnte zwar nicht sonnig und schön genannt werden, aber wenigstens hatte der Sturm nachgelassen und es regnete nur. Nichts erinnerte mehr an die schwarze Wand, und obschon man die Sonne nicht sah, konnte man ihre Anwesenheit im diffusen Licht erahnen. Der Kapitän hatte die Rahsegel an Fock- und Großmast setzen lassen, ebenfalls das Lateiner- und das Sprietsegel. Das Schiff nahm Fahrt auf und jagte über die Wellen dahin. Michelangelo gesellte sich wieder zu dem Kapitän auf die Brücke.
»Wenn das Wetter nicht schlechter wird, sind wir morgen in Ostia«, sagte der Seemann, ohne seinen Blick vom Wasser zu wenden. Er erwartete keine Antwort, und Michelangelo war auch nicht zu einem Gespräch aufgelegt. In diesen Momenten des Schweigens waren sich die Männer nahe, denn nicht beständig reden zu müssen empfanden beide als Geschenk. Sie hassten das ständige Geschwätz, das die Stille der Welt zerstörte. Die Menschen redeten, obwohl sie nichts mitzuteilen hatten, sie redeten aus Langeweile, weil sie einen betrügen oder aushorchen wollten oder im schlimmsten Fall aus Angst. Wenn ein Zauberer Michelangelo angeboten hätte, seinen Figuren eine Stimme zu verleihen, hätte er dies brüsk abgelehnt – seine Figuren sprachen ja, aber sie schwatzten nicht.
»Nimmt Marmor eigentlich Wasser auf?«, fragte nach einer guten Weile der Kapitän.
»Er saugt sich voll.«
»Dann kann es passieren, wenn es weiter so regnet, dass wir uns von einem Block trennen müssen, weil wir zu schwer werden.«
»Eher geht Ihr zu den Fischen als einer von meinen Steinen«, erwiderte der Bildhauer düster. Auch wenn er diese Drohung wohl kaum in die Tat umsetzen konnte, würde er alles dafür tun. Der Kapitän fühlte wenig Neigung, das auszuprobieren, und betete, dass der Regen nachlassen würde. Der Mann neben ihm war in seinen Augen ein Verrückter.
Am nächsten Tag tauchte um die Mittagszeit der Hafen von Ostia vor ihnen auf, und wenig später begann bereits das Verladen der Blöcke auf die Tiberschiffe. Fünf Barken wurden benötigt: Auf vier von ihnen fanden jeweils drei Marmorblöcke Platz, der Moses brauchte ein eigenes Gefährt.
In den späten Abendstunden legte die kleine Marmorflotte in Rom im Ripetta-Hafen an. Die Schiffer und Transportleute weigerten sich, die Boote noch in der Nacht zu entladen, sondern vertäuten sie nur gut am Ufer. Michelangelo war außer sich vor Zorn, konnte aber nichts dagegen ausrichten. Er entschloss sich, die Nacht bei seinen Steinen zu verbringen, um auf sie aufzupassen. Francesco schickte er aus, um einen kleinen Imbiss zu besorgen. Nachdem sie sich gestärkt hatten, durfte sich Francesco auf den Heimweg machen, während Michelangelo am Ufer auf und ab schritt.
Die Kunde von seiner Ankunft machte in Rom schneller die Runde, als er ahnen konnte. Fast zur gleichen Stunde erfuhren der Kardinal Catalano und Donato Bramante von Michelangelos Rückkehr.
Rom, Anno Domini 1505
In der Stunde zwischen Hund und Katz, als sich der Morgen kalt in die schlafende Stadt schlich und die wohlige Nacht vertrieb, marschierten fünf vermummte Gestalten zum Hafen. Als der frierende und übermüdete Michelangelo sie entdeckte, standen sie schon fast vor ihm. Er zog sein Rapier, aber einer der finsteren Gesellen schlug ihm mit seinem Degen die Waffe aus der Hand. Niemand hatte den Bildhauer im Fechten ausgebildet. Ohne etwas zu sagen, packten sie ihn derb, dann fesselten und knebelten sie ihn. Anschließend lichteten sie die Anker der Schiffe und schlugen Löcher in die Schiffsflanken. Dann verschwanden sie wieder so schnell, wie sie erschienen waren.
Michelangelo bäumte sich wütend auf und rüttelte an den Stricken, die ihm schmerzhaft in die Haut schnitten. Der Knebel hinderte ihn daran, um Hilfe zu rufen. Er erstickte fast an seinen Schreien, denn er musste fassungslos zusehen, wie die Barken mit seinem geliebten Marmor auf den Fluss hinaustrieben. Mühsam wälzte er sich auf den Bauch, dann stützte er sich mit dem Kopf vom staubigen Boden ab und zog die Beine an. Mit Haupt und Schulter gegendrückend, winkelte er das rechte Bein an und stellte es auf, mit dem linken folgend gelang es ihm, in die Hocke und von dort in den Stand zu gelangen.
Er rannte zum Zollamt am Einganstor zum Hafen. Dort entzündete ein Mann gerade eine Kerze und schaute aus dem Fenster hinunter zum Hafen. Michelangelo versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er sprang hoch, stürzte aber und landete unsanft auf den Steinen. Er fluchte und kämpfte verbissen, um wieder auf die Füße zu kommen. Da trat der Zöllner, ein kleiner, rundlicher Kerl mit schwarzen Bartstoppeln am Doppelkinn, ins Freie. Er rieb sich die Augen und streckte sich gemächlich. Dann entdeckte er den Baumeister, griff ihm unter die Arme und half ihm hoch. Er starrte Michelangelo eine Weile verblüfft an, bevor er ihm endlich den Knebel aus dem Mund zog. Michelangelo empfand zwar Ekel vor den schmutzigen Fingern in seinem Mund, aber endlich konnte er wieder sprechen!
»Binde mich sofort los!«, fuhr er den dicken Zöllner mit heiserer Stimme an. »Ich bin überfallen worden!«
Während der Mann ungeschickt an den Fesseln zerrte, schaute Michelangelo wieder zum Tiber. Die Barken begannen zu sinken! Tränen traten ihm in die Augen.
»Schnell, hol die Schiffer!«
Der Zöllner rannte los, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Michelangelo entdeckte ein kleines Boot, stieg hinein und ruderte zu der Barke mit dem Stein für den Moses. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Schließlich begann er, das Wasser auszuschöpfen. Nach kurzer Zeit kamen die Schiffseigner herbeigeeilt. Man sah ihnen an, dass sie aus den Betten gesprungen waren, ohne sich um eine passende Kleidung zu kümmern. Was hier im Begriff stand, unwiederbringlich in den gelbgrünen Wogen des Flusses zu versinken, war ihre Existenz! Sie stürzten sich in Boote oder gleich ins kalte Wasser und ruderten oder schwammen zu ihren Barken. Inzwischen füllte sich der Hafen mit Arbeitern, die sich sogleich an der Rettung der Schiffe beteiligten. Zwei Schiffe mit sechs Blöcken wurden in den Hafen gebracht, zwei Barken versanken mitten im Tiber. Am späten Nachmittag gelang es mit viel Mühe, die Steine, die sie an Bord hatten, aus dem flachen Gewässer zu heben. Am Abend lagen der Stein für den Moses, der ebenfalls hatte geborgen werden können, und zehn weitere Steine für die Siegesgöttinnen auf dem Hafengelände. Insgesamt hatte Michelangelo vier Marmorblöcke verloren – es hätte bei Weitem schlimmer kommen können! Für den finanziellen Verlust musste der Papst aufkommen, beschloss er, ohne dabei zu bedenken, dass er selbst bereits den größeren Teil der Summe für seine privaten Zwecke abgezweigt hatte. Das Gewissen des Bildhauers war rein. Schließlich hatte er gut gewirtschaftet. Und es war ganz und gar nicht seine Schuld, dass die päpstlichen Behörden solches Lumpenpack, wie es ihn überfallen hatte, noch nicht aus der Stadt vertrieben hatten, obwohl die Stadt, wie er zugeben musste, seit den Tagen des unseligen Borgia viel sicherer geworden war. Noch heute wollte er sich beim Papst beschweren und Anzeige erstatten. Wer sich an Steinen verging, machte auch vor Menschen nicht halt! Überdies hatte er den ganzen Marmor ja bereits zugehauen, um so wenig wie möglich an überflüssigem Stein mit auf den beschwerlichen Weg nach Rom zu nehmen.