Rom, Anno Domini 1505, im November
In seinen Mantel gehüllt, verließ er den Vatikanpalast. Ascanio, der draußen auf Bramante gewartet hatte, bemerkte sofort die trübe Stimmung seines Herrn und schloss sich ihm wortlos an. Obwohl es November war und Dunkelheit sich auf die Ewige Stadt gesenkt hatte, wehte ein warmer Wind. In den unbeheizten Gebäuden war es durch die Feuchtigkeit inzwischen kälter als draußen. Bramante genoss die Wärme. Als würde er von einem Menschen, den er liebte, angehaucht. Mitten auf der Engelsbrücke traf ihn die Sehnsucht wie ein Blitz. Imperia fehlte ihm. Er wunderte sich über sich selbst, denn das Verlangen war nicht sexueller Natur. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihren Anblick vermisste er. Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn, denn er konnte nicht zu ihr gehen. Das war Teil der Vereinbarung. Er hatte seine Liebe geopfert, damit der mächtige Chigi ihm half, sein erträumtes Bauwerk zu errichten. Warum nur war ihm das so viel wert? Ganz einfach, weil sein ganzes Leben auf diesen Auftrag zulief.
Er dachte kurz daran, ein Bordell aufzusuchen oder einen Freund zu besuchen. Dann rang er sich dazu durch, nach Hause zu gehen. In der Gesellschaft von Menschen würde er sich nur noch einsamer fühlen, weil Imperia nicht unter ihnen war. Er beschied Ascanio, sich schlafen zu legen, denn er hatte nicht die Absicht, noch einmal auszugehen.
In seinem Schlafzimmer zündete Bramante ein paar Kerzen auf einem Leuchter an und stellte ihn neben sein Bett. Er zog die Stiefel aus, seinen langen schwarzen Mantel, die schwarze Überhose, die Strumpfhose. Nur bekleidet mit seinem weißen Hemd, das ihm bis zu den Kniekehlen reichte, stand er da und schaute melancholisch auf sein Bett. Die Erinnerung daran, was Imperia und er dort getan und besprochen hatten, zauberte für einen kurzen Moment ein genüssliches Lächeln auf seine Lippen. Ihm war, als höre er ihr Lachen, ihren Spott, ihre Stimme, wie sie ihm Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterte. Dann sah er ihre kleinen, aber kräftigen Hände vor sich, die seine Männlichkeit umfasst hielten, und ihre festen Brüste. Mehrmals rieb er sich mit den Handflächen über das Gesicht, als wolle er die Bilder abwaschen. Dann griff er nach dem Leuchter und stieg in seine Werkstatt hinab.
Auf dem Arbeitstisch lag der Entwurf des neuen Petersdoms, an dem Antonio da Sangallo tagsüber arbeitete. Daneben fand sich seine flüchtige Skizze, die er während der Audienz auf die Rückseite von Sangallos Plan gezeichnet hatte, den Antonio ins Reine übertrug und ausarbeitete. War es das wirklich wert, dieser Idee die Liebe zu opfern? Über sich selbst verwundert nahm er eine Bibel aus einem kleinen Regal an der rückwärtigen Wand. Es war eine Übersetzung der Heiligen Schrift ins Italienische. Bramante besaß nicht eben viele Bücher, und einige hielt er unter Verschluss. Er wusste, warum.
Er nahm die Bibel und den Leuchter mit hinauf in sein Schlafzimmer, schob die Kissen zurecht und setzte sich ins Bett. Dann schlug er im Alten Testament die Seite mit dem Hohelied Salomos auf. Er hatte es nie gelesen. Er erinnerte sich lediglich daran, dass so unterschiedliche Männer wie Leonardo, Pico, Ficino oder Poliziano von diesem Buch des Buchs der Bücher geschwärmt hatten – allerdings auch der schwarze Mönch. Unstrittig war nur, dass es in diesem Text um die Liebe ging, und dann begann schon der Zwist: Die einen meinten, es spräche über die Liebe des Menschen zu Gott, die anderen sahen in ihm Gott und die Kirche dargestellt, wieder andere Kirche und Mensch. Manche aber schoben all die Spekulationen beiseite und behaupteten kühn, das Hohelied handele von der Liebe eines Mannes und einer Frau.
Bramante las und las bis zum Morgengrauen und mochte und konnte nicht mehr aufhören. Die Worte überfielen ihn wie Räuber, die es auf seine Sinne abgesehen hatten. Zweimal musste er neue Kerzen entzünden. Aber das störte ihn nicht, er spürte keine Müdigkeit, das Herz klopfte heftig in seiner Brust, während er laut las:
»Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester,
liebe Braut,
du hast mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick
deiner Augen, mit einer einzigen Kette an deinem Hals.
Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut!
Deine Liebe ist lieblicher als Wein,
und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Gewürze.
Meine Schwester, liebe Braut, du bist
ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten, Zyperblumen mit Narden …«
Bramante schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Nach einer Weile fuhr er fort:
»Dein Schoß ist wie ein runder Becher,
dem nimmer Getränk mangelt.
Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum,
deine Brüste gleichen den Weintrauben …«
In der Frühe erhob er sich, zog sich an und trat aus dem Haus. Nichts hielt ihn zurück. Es kam ihm seltsam vor, doch konnte er sich nicht dagegen wehren. Ascanio schien einen leichten Schlaf zu haben, denn er hatte ihn gehört und folgte ihm nun wieder in leichtem Abstand. Als Bramante die Klosterkirche von San Silvestro in Capite betrat, fiel sein Blick sofort auf Lucrezia, die wieder vor der Reliquie des heiligen Johannes ihre Andacht verrichtete. Ascanio blieb in der Nähe des Eingangs stehen. Nur ein kleines Stück hinter dem Mädchen ließ sich Bramante auf die Knie nieder und begann zu beten. Anfangs ging es holprig, doch dann gelang es immer besser. Tränen rannen ihm aus den Augen. Es waren Tränen der Erschütterung, denn er hatte das Gefühl, dass Gott ihm zuhörte. Als er aufblickte, sah er Imperias Tochter, die sich auf einer Bank niedergelassen und ihm zugeschaut hatte. Ihre Blicke kreuzten sich.
»Verzeiht, Messèr Donato, dass ich Euch beobachtet habe!«, sagte sie leise und errötete.
»Es ist schon gut. Nenne mich einfach Donato«, erwiderte er sanft, stand auf und setzte sich zu ihr.
»Entweder seid Ihr sehr religiös, oder Ihr habt schon lange nicht mehr gebetet.«
Der Architekt staunte über die Menschenkenntnis des jungen Mädchens. »Letzteres ist der Fall«, räumte er ein.
Sie fuhr ihm tröstend übers Haar. »Das ist nicht schlimm. Es heißt, im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte.«
Sie schwiegen, und es tat ihm gut, mit ihr zu schweigen und dabei nur ihre Gegenwart zu spüren. Er fühlte, dass er Lucrezia zu lieben begann, nicht wie Imperia, nicht wie eine Frau, sondern wie die Tochter, die er nie gehabt hatte.
»An der Tür steht ein junger Mann, der uns die ganze Zeit beobachtet!«, raunte sie ihm zu.
»Mein Leibwächter.«
»Seid Ihr etwa in Gefahr?«
»Mit ihm an meiner Seite nicht. Darf ich wiederkommen?«, bat Bramante.
»Gern. Es ist schön, mit Euch zu reden, Donato.«
»Sag du!«
»Es ist schön, mit dir zu reden.« Lucrezia schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie wie ein Frühlingshauch entschwand.
Von nun an begab sich Bramante jeden Tag zur Morgenandacht in die Klosterkirche und unterhielt sich danach noch ein halbes Stündchen mit Lucrezia, tauschte mit ihr Geschichten aus, lachte und erzählte komische Begebenheiten. Manchmal fragte sie ihn um Rat, wenn sie Streit mit einem anderen Mädchen hatte.
Eines Tages, als er sich verabschieden wollte, stand Imperia vor ihm. Es war ihm unangenehm. Er fühlte sich ertappt und fürchtete, dass die Gespräche mit ihrer Tochter, die ihm inzwischen so viel bedeuteten, ein jähes Ende finden könnten. In der Tat hatte er sich inzwischen der Illusion hingegeben, dass sie wirklich seine Tochter wäre. Plötzlich verstand er, dass Kinder ein Mittel gegen die Angst vor der Ewigkeit waren, eine Angst, die ihn in letzter Zeit immer öfter befiel. Lucrezia war ihm mehr und mehr vertraut geworden, und nun fürchtete er, dass Imperia die Situation missverstehen könnte. Lucrezia küsste ihre Mutter, verabschiedete sich mit dem unschuldigsten Lächeln und ließ Bramante und Imperia allein.