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Michelangelo fühlte sich unverstanden und lachte bitter über den Rat des väterlichen Freundes. Düster sah er in die Runde, als erwartete er, dass die Männer sogleich eine Sammlung für ihn veranstalteten. Dann sprang er wütend auf. »Glotzt mich nicht so an! Ich bin ein armer Mann, das Elend nagt an mir. Wie soll ich da Kunstwerke schaffen? Ihr haut euch den Wanst voll und redet über das Bild des armen Lazarus, während euch das Fett aus den Mundwinkeln tropft!«

Er hatte sie alle so gründlich satt, diese ganze selbstzufriedene Bande. Natürlich hatte er viel Geld erhalten, aber für ihn viel zu wenig. Lebte er denn wie ein Verschwender? Seine Einrichtung bestand nur aus einem schmalen Bett, einem alten Tisch und zwei Holzstühlen, ungepolstert. Er ging nicht ins Bordell und aß wie die armen Handwerker das billige Graubrot mit Gemüse und Salat, selten Fleisch und trank einen Weißwein, den er verdünnte und dem überdies die Bezeichnung Essig schon eine ungeahnte Süße verliehen hätte. Wenigstens zwei Landgüter musste die Arbeit abwerfen. Besser noch drei. Tagtäglich vom frühen Morgen bis zum späten Abend plagte er sich mit einer Härte, die keine Bezahlung aufwiegen konnte. Und war es denn seine Schuld, dass er fast alles allein machen musste, weil niemandem zu trauen war?

Er ertrug diese biederen, langweiligen, genügsamen Gesichter nicht länger, für die alles leicht, zu leicht war, sprang auf und wandte sich abrupt zum Gehen.

32

Rom, Anno Domini 1506, im Januar

Das Geräusch eiliger Schritte drang von der Treppe her in Sangallos Esszimmer. Kurz darauf stand ein Herold des Papstes in der Tür, der an dem grauen Überwurf mit dem gelben Wappen, der Tiara über den gekreuzten Schlüsseln, zu erkennen war.

»Messèr Giuliano, der Heilige Vater befiehlt, dass Ihr Euch unverzüglich, so schnell Ihr könnt, zum Monte Oppio begebt, zum Weinberg des Felice de Fredi. Man hat dort eine Entdeckung von höchster Wichtigkeit gemacht, die Ihr begutachten sollt.« Dann sah er Michelangelo an. »Und Euch, Messèr, befiehlt seine Heiligkeit dasselbe!« Man sah dem Mann an, dass er froh war, sich einen Weg sparen zu können.

»Richtet Seiner Heiligkeit aus, dass wir schon unterwegs sind«, entgegnete Sangallo knapp.

Die beiden Männer verständigten sich kurz mit Blicken, dann verließen sie, gefolgt von der gesamten Tischgesellschaft, den Saal, ließen sich von Sangallos Diener ihre Mäntel reichen und stapften durch einen zähen Brei aus Wasser, Dreck und Kot in Richtung des Forum Romanum. Die nasse Kälte drang ihnen durch die Kleidung und ließ die Temperaturen niedriger erscheinen, als sie tatsächlich waren. Wenigstens regnete es nicht, wenngleich der eisige Wind unangenehm blies. Dann riss die graue Wolkendecke auf, und ein zartes Hellblau kam zum Vorschein, so als hätte es ein Maler mit ganzer Liebe hingetupft und mit einem glänzenden Firnis überzogen. Die Sonne warf ihr wohltuendes Licht über die vielen Geschlechtertürme der römischen Adligen, an denen sie vorbeikamen.

Von der Neugier getrieben, schritten Michelangelo und Sangallo kräftig aus. Wenn Julius, dem antike Funde gemeldet werden mussten, sie derart dringend zu einem Platz beorderte, stand dort Bedeutendes zu erwarten. Linker Hand erhob sich das Kapitol mit dem wuchtigen Palazzo des Senats, der römischen Stadtregierung, die aber vollkommen von der Kurie abhängig war. Sie schritten bergab. Vor ihnen öffnete sich mit seinen spärlichen Ruinen das Forum Boarium, der alte Fleischmarkt der Römer. Sie wandten sich nach links. Das matte Grün von Gras ragte auf Wiesenrücken aus dem Grau des Matsches. Trotz des Wetters hatten einige Bauern ihre Kühe, Schafe oder Ziegen hierher getrieben, in der Hoffnung, dass sie doch noch genügend Nahrung finden würden. Die Bauern trugen knielange Leinenhosen, die mit dicken Strümpfen zusammenstießen. Die meisten von ihnen waren in derbe Schaffellmäntel gehüllt.

Nachdem Michelangelo und Sangallo den wuchtigen, quaderförmigen Bogen des Septimus Severus, die Curia Julia und die Basilika Emilia hinter sich gelassen hatten, erhob sich vor ihnen die Säulenreihe des Tempels des Antoninus Pius und der Faustina. In die Cela des Tempels hatte man die Kirche von San Lorenzo di Miranda gezwängt. Michelangelo mochte die Säulenreihe in ihrer korinthischen Sorglosigkeit, die der Kirche vorgelagert war. Sie wählten den Weg, der zwischen San Lorenzo und dem Tempel des Romulus entlangführte. Hinter der Rotunde beherrschte die Kirche Santi Cosma e Damiano das Terrain, die den antiken Bau als Vorhalle benutzte.

»Man hat sie geschlossen«, rief Sangallo dem Bildhauer zu, der bis jetzt beharrlich geschwiegen hatte.

»Warum?«

»Ich weiß es nicht. Der Tempel des Romulus war eine Bibliothek. Vielleicht suchen sie nach heidnischen Büchern. Es heißt, der Erzpriester von Sankt Peter habe es veranlasst.«

Michelangelo schüttelte verwundert den Kopf. »Wie unterschiedlich die beiden Kirchen doch sind, wie verschieden sie mit dem Erbe der Alten umgehen! Während hier links der alte Tempel die Kirche geradezu im Zwinggriff hält, beherrscht rechter Hand die Kirche den alten Bau und erniedrigt ihn zum buckligen Türsteher. Einmal herrscht das Alte über das Neue und dann wieder das Neue über das Alte. Das Leben ist ein höchst unsicherer Patron. Man kann sich auf nichts verlassen.«

Sangallo schmunzelte. »Und da sage jemand, du hättest keinen Humor!«

»Ich habe nur Liebe, aber keinen Humor«, erwiderte der Bildhauer.

Vor ihnen erhoben sich Weinberge. Sie hielten sich rechts, Richtung Kolosseum, schritten dann, die Maxentius-Basilika im Rücken, die wie ein Bär auf der Lauer wirkte, zielstrebig auf die Thermen des Titus und Trajan zu. Neben den Ruinen der Thermen erhob sich der Monte Oppio mit seinem Bürstenschnitt von Weinstöcken.

Sie mussten nicht lange suchen, denn auf dem Areal von Felice de Fredi hatte sich bereits eine kleine Menschenansammlung gebildet. Der Winzer, in gelbe Leinenhosen und einen dunkelgrünen Mantel gehüllt, kam ihnen aufgeregt entgegen. Sein langer rotgrauer Bart schwankte und schaukelte beim Gehen. Noch auf halbem Weg rief er fragend: »Seid Ihr Messèr Giuliano Sangallo?«

»Das bin ich, in Begleitung von Messèr Michelangelo und den Gästen meiner Tafel«, erklärte der Architekt die fröhliche Gesellschaft.

»Kommt, ehrenwerte Messères, tretet näher, und schaut euch an, worauf meine Leute bei ihren Arbeiten im Weinberg gestoßen sind!«

Zwischen den Weinstöcken klaffte ein Loch und gab den Blick in einen Hohlraum aus altem Mauerwerk frei. Wie bei einem Menschen, den man bis zum Hals eingegraben hatte, ragten ein löwenmähniges Haupt mit einem wilden Bart und ein Arm aus der Erde. Michelangelo und Sangallo ließen sich vorsichtig in die fast acht Fuß tiefe Grube hinab. Michelangelo zog seinen schwarzen Mantel aus und begann vorsichtig, die Plastik zu säubern. Kräftige Finger kamen unter dem Staub und Schutt der vergangenen Anderthalbjahrtausende zum Vorschein, die etwas Rundes umfasst hielten. Bei der Säuberung des Armes erwies sich das Runde als Schwanz einer riesigen Schlange, die sich scheinbar um den Körper des Leichnams wickelte. Das Gesicht war von Schmerz gezeichnet. Sie begannen, die Skulptur auszugraben.

»Laokoon?«, flüsterte Michelangelo mit gebrochener Stimme, wobei ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Laokoon hatte seinen eigenen Untergang erlebt und war, als genüge das nicht, noch zum hilflosen Zeugen des Todes seiner geliebten Söhne geworden. Die Götter hatten gegen ihn und gegen sein Geschlecht gewütet.

»Ich habe die Übersetzung der Worte des Plinius wörtlich im Ohr. Der Mann, die Schlange, der Schmerz, alles deutet darauf hin!«, bestätigte Sangallo atemlos.