»Dann befinde ich mich wenigstens in guter Gesellschaft«, gab Ascanio zurück. Es war Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen.
Schweigend und staunend schritt der Papst einige Male um die Laokoon-Gruppe herum, die in der Stanza della Segnatura auf dem großen Eichenholztisch stand. In Julius’ Augen glomm ein stilles, aber intensives Feuer. Der Heilige Vater trug nur einen weißen Mantel und den weißen Pileolus, die Mozetta hatte er weggelassen. So bekam die Audienz etwas Inoffizielles, ja fast Privates.
»Ohne Laokoon wären wir nicht hier«, sagte er schließlich ergriffen. »Die Götter hatten die Vernichtung Trojas beschlossen. Der Priester Laokoon warnte die Trojaner, doch sie hörten nicht auf ihn. Weil er aber gegen den Willen der Götter rebelliert hatte, ließen Zorn und Rache der Gewaltigen nicht auf sich warten. Sie schickten die todbringenden Schlangen. Als Äneas sah, wie Laokoon und dessen Söhne qualvoll starben, wusste er, dass Troja dem Untergang geweiht war. Dieses Bild, das die Schöpfer der Skulptur festgehalten und verewigt hatten, stand Äneas vor Augen, mehr noch, er wurde Zeuge dieser grausamen Szene. Danach schiffte er sich mit den Seinen ein und verließ das dem Untergang geweihte Ilion. Er landete weiter südlich von ihr bei Ostia und sein Sohn Julus gründete das Geschlecht der Julier.«
Bei diesen Worten lächelte der Papst feinsinnig, als würde er seines Ahnherrn gedenken, und seine blauen, tief liegenden Augen begannen zu glänzen. Wie jung dieser alte Mann wirken konnte, dachte Michelangelo staunend.
»Deshalb habe ich die Skulptur erworben, weil ich das allergrößte Interesse an ihr habe«, erklärte Julius II.
Dann fasste er die beiden Künstler ins Auge und bat sie, ihm alles zu erzählen, was sie über die Plastik herausgefunden hatten. Michelangelo zeigte auf der Rückseite auf zwei kaum erkennbare Nähte. »Hier und hier hat man das Ensemble zusammengefügt.«
»Also hat Plinius unrecht, wenn er behauptet, dass die Skulptur in einem Stück gefertigt wurde?«, fragte Julius nachdenklich und besah sich genauer die Stellen, auf die der Bildhauer gezeigt hatte.
Michelangelo hob die Hände. »Heiliger Vater, man kann das dem großen Gelehrten nicht vorwerfen, denn die Nähte sind so gut verborgen, dass auch Giuliano und ich Mühe hatten, sie zu entdecken.«
»Das kann man mit vollem Recht behaupten. Meine alten Augen sehen sie jedenfalls nicht mehr«, sagte der Papst mürrisch. Sein Kammerdiener betrat den Raum und verneigte sich. Als der Papst ihn zu sich winkte, folgte er der Aufforderung mit schnellen Schritten. Julius bot ihm das Ohr, und der Domestik flüsterte ihm etwas zu. Das Gesicht des Stellvertreters Christi verdüsterte sich.
»Du musst zum Hafen, mein Sohn. Rasch!« Er legte Michelangelo die Hand auf die Schulter und schaute wie ein Vater auf ihn hinab. Der Bildhauer erstarrte. Was hatte man ihm nun wieder angetan? Er fühlte sich verfolgt. Jemand behinderte ihn auf Schritt und Tritt und fügte ihm gezielt und ausdauernd Schaden zu, um ihn zum Aufgeben zu bringen.
»Folg mir zum Hafen«, sagte er mit unheilverkündender Miene zu Francesco, der draußen auf ihn gewartet hatte. Auf dem Vorplatz des Petersdomes, in der Nähe der Kirche Santa Caterina, trafen sie auf Bramante, gefolgt von einer verwegenen Gestalt. Dieser Schurke kam nach vollbrachter Schandtat vom Ripetta-Hafen, durchfuhr es Michelangelo. Er trat dem Architekten in den Weg, um ihn zur Rede zu stellen. Bramante starrte ihn verständnislos und, wie Michelangelo glaubte, feindselig an.
»Was habt Ihr mit meinem Marmor gemacht?«, fragte der Bildhauer barsch.
»Was geht mich Euer Marmor an?«, knurrte Bramante und wollte schon an dem Florentiner vorbeigehen. Hätte es für Michelangelo eines Beweises bedurft, dann wäre es die Eile gewesen, mit der Bramante versuchte, ihm aus den Augen zu kommen. Das konnte doch nur das schlechte Gewissen sein. Er packte den Baumeister am Arm. »Hiergeblieben, ich bin noch nicht fertig mit Euch!«
»Ich aber mit Euch«, schrie Bramante und riss sich mit jähem Ruck los. Bevor Michelangelo erneut zufassen konnte, schob ihn Ascanio zur Seite.
»Besser, Ihr lasst meinen Herrn zufrieden. Er hat Wichtigeres zu tun. Noch einmal werde ich nicht so rücksichtsvoll zu Euch sein.« Der Bildhauer sah in das finstere Gesicht des Leibwächters. Er kannte ihn nicht und wusste deshalb auch nicht, dass Ascanio immer ein Lächeln und eine gewisse Leichtfertigkeit zur Schau trug, sonst hätte ihn der wilde Ausdruck seines Gesichts wohl noch stärker eingeschüchtert. Francesco hatte sich ohnehin ein wenig abseitsgehalten und blickte nun ängstlich auf seinen Herrn. Widerwillig trat Michelangelo zur Seite und eilte, gefolgt von seinem Diener, zum Hafen. Unterwegs stieß er laute Racheschwüre aus.
Als sie am Tiber eintrafen, kamen ihm unwillkürlich die Tränen. Die verfluchten Kerle hatten so viele Marmorblöcke, wie sie konnten, in den Fluss geschoben – auch den riesigen bossierten Stein, aus dem er den Moses zu hauen gedachte. Michelangelo trug Francesco auf, Fuhrwerke und Kutscher zu besorgen, während die Hafenarbeiter unter seiner beherzten Anleitung die nassen Quader aus dem Wasser zogen. Er beschloss, den Marmor auf dem Petersplatz vor der Kirche Santa Caterina zu lagern. Eine Straße weiter befand sich seine Werkstatt. Unter seinen Augen und denen des Papstes würde sicher niemand wagen, sich an dem Material zu vergehen!
Draußen hatte der Regen wieder eingesetzt. In der Basilika wurde es dadurch schlagartig dunkel, weil sich dicke Wolken vor die Sonne geschoben hatten und deshalb nur noch wenig Licht auf die kleinen Fenster im Obergaden traf. Dunkel wie der Glaube, dachte Bramante zornig. Aber das wollte er ja alles besser machen. Einen großen, schönen, hellen Tempel als Mittelpunkt der Welt, dessen Heiterkeit und Ebenmaß überallhin ausstrahlen würde, hatte er entworfen. Nach dem Vorbild der Antike. Unter seiner Himmelskuppel würde eine neue Zeit anbrechen. Das war der Grund, weshalb sich der Dominikaner so sehr dagegen stemmte: weil er die alte, die dumpfe, die dunkle Kirche erhalten wollte!
Der Geruch des Weihrauchs, der in der Basilika waberte, schlug ihm wie eine bittere Speise auf den Magen. Viele Pilger beichteten ihre Sünden und beteten zu Gott in der Hoffnung auf Ablass und Fürsprache. Bramante hielt auf den Beichtstuhl im Nordwestbereich der Kirche zu, in dem er damals mit dem Kardinal gesessen und versucht hatte, mit ihm ein Komplott gegen Michelangelos Grabmal zu schmieden. Auf der Suche nach Giacomo rannte er von Beichtstuhl zu Beichtstuhl, riss den Vorhang zur Seite oder rücksichtslos die Tür auf. Er handelte sich dafür überraschte oder zornige Blicke der Priester und Beichtenden ein, aber den Dominikaner fand er nicht. Dennoch sagte ihm sein Gefühl, dass sich dieser in der Peterskirche aufhielt. Doch wo, überlegte er fieberhaft. Plötzlich erfasste ihn eine Ahnung. Natürlich, dass er daran nicht von Anfang gedacht hatte! Im Herzen der Basilika musste er sein. Unterhalb der Confessio, am Grab Petri.
»Komm, ich weiß, wo der Teufel steckt«, rief er Ascanio zu. Sie eilten zum Hochaltar, öffneten die kleine schmiedeeiserne Tür und stürzten die schmalen Treppen hinunter.
Dann sahen sie sie. Lucrezia. Sie saß vor dem Grab des Apostelfürsten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Die Augen verbunden, geknebelt. Bramante konnte spüren, wie ihr junger Körper vor Angst zitterte, und wollte auf sie zustürzen, als sich ihm zwei Bewaffnete in den Weg stellten. Ascanio zog sein Rapier.
»Versucht es erst gar nicht, Donato«, sagte Giacomo il Catalano, der aus dem Halbdunkel erschien. Er schnippte mit den Fingern, und weitere zehn bewaffnete Männer traten hervor. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, waren es erfahrene Haudegen.
»Hier hat Gott meiner Kunst ein Ende gesetzt!«, raunte Ascanio dem Architekten mit erschreckender Nüchternheit zu.
»Sie ist ein unschuldiges Kind! Ist das christlich? Ist das Gott wohlgefällig?«, rief Bramante wutentbrannt.
Lucrezia wandte den Kopf in seine Richtung.