»Stillgehalten, sonst gibt’s eins in die Fresse!«, fuhr sie einer der Bewacher grob an.
»Sei vorsichtig, Narbengesicht!«, drohte Bramante. In seiner Stimme schwang ein gefährliches Grollen. Der Kerl grinste schmierig, und der Kardinal verzog keine Miene, als ginge ihn das Geplänkel nichts an.
»Kommen wir zu dem Grund, weshalb wir uns hier mehr oder weniger freiwillig versammelt haben«, sagte er kühl. »Der Zweck heiligt die Mittel und das Amt seinen Träger! Ihr wisst, was ich will. Geht zum Papst, erklärt Euren Rücktritt und schlagt Frà Giocondo als leitenden Architekten für den Neubau des Petersdomes vor – dann wird dem Mädchen kein Haar gekrümmt. Sobald mein Ordensbruder vom Heiligen Vater als Baumeister berufen ist, bekommt Ihr die Kleine unversehrt zurück.«
»Warum sollte ich Euch trauen?«, fragte Bramante. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
»Weil ich bei Gott schwöre, dass ich mich an diese Abmachung halten werde. Ebenso gelobe ich beim Allerhöchsten, dass ich das Mädchen andernfalls zehn Tage lang diesen zehn Männern – jedem einen Tag zum freien Vergnügen – überlasse, bevor ich ihr höchstselbst die Kehle durchschneide. Ihr habt die Wahl.«
Bramante gefror das Herz. Weit oben über dem Grab wollte er die Kuppel des Himmels errichten und fand sich nun in der Grube der Hölle wieder. In dem Augenblick, in dem er zu explodieren drohte, spürte er Ascanios Hand auf seiner Schulter. Diese Geste bewirkte, dass sein rationales Denken wieder die Oberhand gewann, und er warf seinem Leibwächter einen dankbaren Blick zu. Unbedachtsamkeit oder Jähzorn würde Lucrezia töten.
»Gut«, brachte er zähneknirschend hervor. »Morgen früh werde ich um eine dringende Audienz beim Papst nachsuchen.«
»Bemüht Euch nicht. Ich habe den Heiligen Vater bereits darüber informiert, dass wir etwas Wichtiges zu bereden haben. Die Audienz findet heute nach der Vesper statt. Ihr wollt die Kleine doch schnell wiederhaben, also seid pünktlich. Ihr wisst, was geschieht, wenn Ihr unpünktlich seid oder mich zu täuschen versucht«, fügte er leise, aber drohend hinzu. »Ihr solltet mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ich keine Nachsicht üben werde. Alles – Leben oder Tod, Glück oder Unglück – liegt in Eurer Hand!«
Niemals im Leben hatte sich Bramante so ausgeliefert und hilflos gefühlt. Aber er hatte keine Wahl.
»Einverstanden«, murmelte er mit bitterer Stimme und trat zu Lucrezia. Der Narbengesichtige zog sein Rapier und zielte mit der Spitze auf seine Brust.
»Lass ihn«, befahl ihm der Kardinal.
Bramante kniete sich zu dem Mädchen, umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hole dich hier heraus, Lucrezia. Dir wird nichts geschehen. Hab Mut, und ängstige dich nicht. Vertrau mir!« Dann erhob er sich.
»Wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird, wird meine Rache für jeden Einzelnen von euch furchtbar und qualvoll sein! Selbst wenn ihr mich töten solltet, werdet ihr keine Ruhe finden. Meine Rache wird mich überleben.« Bramante hatte so ruhig und sachlich gesprochen, als ginge es um eine Bauanweisung, und dabei jeden der Entführer der Reihe nach angesehen. Zum Schluss blickte er Giacomo an. In seinen Augen loderte die gleiche unversöhnliche Feindseligkeit wie in denen des Kardinals. Er wandte sich zum Gehen.
»Einen Augenblick, Donato«, sagte Giacomo. »Ihr habt noch etwas, das mir gehört. Seid so gütig, und lasst es hier!«
Bramante zog den Ring vom Finger und warf ihn hinüber zur Grabstelle des Apostels. Entsetzt sprang Giacomo auf den Altar zu, konnte den Ring aber nicht mehr abfangen. Er flog durch das Gitter unterhalb des Altars und fiel klirrend in die Tiefe. Der Dominikaner durchbohrte Bramante mit Blicken, aus denen abgrundtiefer Hass sprach.
»Tut mir leid«, knurrte der Baumeister grimmig und stieg, gefolgt von Ascanio, die Treppen zum Kirchenschiff hinauf. Er kämpfte verbissen gegen die Last auf seinen Schultern an, die mit jedem Schritt größer wurde. Ihm war, als drückte der gesamte Petersdom auf ihn.
Auf dem Heimweg schossen Bramante tausend Gedanken wild durch den Kopf. Sein Denken drehte sich im Kreis. Sollte er aufgeben? Was konnte er anderes tun, als die Forderungen des Dominikaners zu erfüllen? Er zweifelte nicht daran, dass der Erzpriester seine Drohung wahr machen würde, skrupellos genug war er. Ascanio bat seinen Herrn, ihn für eine Stunde zu entschuldigen. Bramante nickte verwirrt.
In seinem kleinen Palazzo erwarteten ihn Imperia und Agostino Chigi. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, fragte Imperia mit angsterfüllter Miene, was er zu tun gedenke.
»Der Forderung des Dominikaners nachkommen natürlich!«, rief Chigi. Der sonst so beherrschte Bankier hieb mit seiner schlanken Faust so heftig auf den Tisch, dass seine langen Haare kurz zu Berge standen. »Teuflisch fein gesponnen! Wir könnten den Papst informieren, aber wir haben keine Beweise. Aussage stünde gegen Aussage.«
»Er wird diese Möglichkeit in seine Überlegungen einbezogen haben«, sagte Bramante müde. »Und ich glaube nicht, dass er Lucrezia noch lange in der Basilika verstecken wird, jedenfalls nicht dort, wo wir sie gefunden haben.« Er seufzte resigniert. »Ohne den geringsten Beweis wird uns Julius nicht glauben, und wenn wir einen Beweis hätten, würde er es vertuschen. Der Papst zieht einen Kardinal nur zur Rechenschaft, wenn er ihn bestiehlt oder ein Komplott gegen ihn persönlich geschmiedet hat.«
»Aber nicht wegen der Tochter einer Kurtisane«, sagte Imperia bitter.
»Wegen keines Mannes und keiner Frau Tochter oder Sohn«, versuchte der Bankier seine Geliebte zu trösten. Doch sie hörte ihn gar nicht, sondern begann, an ihren Fingernägeln zu kauen. »Wird der Kardinal Wort halten?«, fragte sie zitternd.
»Vermutlich«, erwiderte Bramante und senkte den Kopf. Er wollte es zumindest hoffen.
»Dann tu es, Donato, geh auf seine Forderungen ein! Du wolltest schon einmal für mich auf dieses Projekt verzichten, dann tu es jetzt für Lucrezia und für mich!«
Bramante nickte traurig. In diesem Moment stürmte Ascanio ins Zimmer, blickte noch einmal prüfend auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu. Der Leibwächter wirkte verschwitzt, und seine Kleidung war in Unordnung geraten. Offenbar hatte er sich sehr beeilt. Sein Gesichtsausdruck verriet eine große Anspannung. Mit wenigen Schritten war er bei Bramante und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Baumeister riss die Augen auf und sah Ascanio ungläubig an. Der Leibwächter nickte.
»Giorgio!« Bramante hatte kaum nach seinem Diener gerufen, als dieser schon erschien. Ascanio schloss die Tür, legte den Riegel vor und zog sein Rapier aus der Scheide. Der Hausdiener drehte sich erschrocken um. Angst schlich in sein dickes Gesicht und straffte sein Doppelkinn.
»Wir haben zu reden«, sagte Ascanio trocken. »Wage es nicht, zu lügen oder nach Ausflüchten zu suchen. Das würde schmerzhaft für dich ausgehen. Was hat dir Ranuccio, das Narbengesicht, für deine Spitzeldienste geboten?«
Giorgios Augen blickten panisch hin und her. Einen Moment schien er zu überlegen, ob er leugnen sollte, warf sich aber dann Bramante zu Füßen. »Gnade, Herr, Gnade, ich habe Euch all die vielen Jahre treu gedient.«
»Das ist es ja gerade!«, sagte Bramante enttäuscht und traurig. Der Verrat traf ihn tief. Dreißig Jahre schon stand der Mailänder inzwischen in seinen Diensten.
Giorgio brachte zu seiner Entschuldigung vor, dass ihn Ranuccio erpresst habe, weil er in einer der billigen Tavernen von Regola im Streit um eine Frau einen Mönch erschlagen hatte.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Bramante.
»Weil ich schon im Kerker von Tor di Nona war und seine Eminenz, Kardinal Catalano, mir die Instrumente zeigen ließ. Niemand würde mir helfen können, hat er gesagt. Auch Ihr nicht, nur er.«
Bramante ließ den Kopf hängen. Nun war ihm klar, auf welche Art und Weise der Erzpriester seinen schwachen Punkt herausgefunden hatte. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm.