»Hast du Lucrezia aus dem Kloster abgeholt?«, fragte er den Diener, der betreten nickte. Ascanios und Bramantes Blicke trafen sich.
»Er hat sich vor Lucrezia nicht verborgen«, stellte der Leibwächter fest.
»Triffst du dieses Pack noch einmal?«, hakte der Architekt nach.
»Ja. Heute Abend soll ich am Kolosseum meinen Lohn abholen.«
»Sie werden dir die Kehle durchschneiden«, sagte Bramante trocken. »Als Lohn für deinen Verrat.«
Eine böse, heimtückische Stille breitete sich aus. Für alle bis auf Giorgio nahm der Plan des Erzpriesters seine furchtbaren Konturen an.
Chigi rollte mit den Augen. »Sobald du zurückgetreten bist, Donato, wird dir Julius seine Gunst entziehen. Er wird es als Verrat auffassen, dass du ihn mit dem großen Projekt im Stich lässt.«
»Ich habe es ihm schließlich eingeredet.«
»Eben. Einem Kardinal kannst du dann nicht mehr gefährlich werden.«
»Er wird uns auch Lucrezia nicht lebend zurückgeben!«, sagte Ascanio leise. »Für das Verbrechen gibt es keine Zeugen mehr, und der Einzige, der Anklage erheben könnte, steht selbst als Verräter da.«
Es war ein teuflisches Netz, das der Dominikaner geknüpft hatte. Ausweglos für die, die sich in ihm verfangen hatten. Voller Schmerz schrie Imperia auf und brach in Schluchzen aus.
34
Rom, Anno Domini 1506
Noch nie in seinem Leben hatte Bramante etwas versprochen, wenn er nicht garantieren konnte, dass er auch imstande wäre, sein Wort zu halten. Das einzig Tröstliche war, dass nur der Tod ihn daran hindern konnte, seinen Plan auszuführen. Alle hatte er davon überzeugt, selbst Imperia. Doch in Wahrheit gab es auch keine Alternative. Nüchtern betrachtet hatten sie nur zwei Vorteile. Zum einen wusste Giacomo nicht, dass sie ihn durchschaut und den verräterischen Diener festgesetzt hatten, zum anderen war ihm unbekannt, dass Ascanio sehr gute Verbindungen zur römischen Halb- und Unterwelt unterhielt. Bramante blieb nicht viel Zeit, eine gründliche Vorbereitung war ausgeschlossen. Er musste improvisieren und auf sein Glück vertrauen. Das war nichts Neues, denn sein Leben bestand aus der Kombination von Klugheit, Kampferfahrung und Glück.
Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Bramante pünktlich nach der Vesper beim Pontifex erscheinen würde. Dann kam es darauf an, dass die Audienz in die Länge gezogen wurde, bevor der Architekt seinen Rücktritt erklärte. Da Giacomo aber sofort Verdacht schöpfen würde, wenn Bramante versuchte, Zeit zu schinden, weihten sie Egidio da Viterbo ein. Dieser hatte jederzeit freien Zugang zum Papst und war ebenso berühmt wie berüchtigt für seine langen, blumigen Vorträge und Predigten. Giacomo würde die Suada des Augustiners über sich ergehen lassen, ohne Argwohn zu schöpfen.
Ascanio wusste, dass ihm nur wenig Zeit zur Verfügung stand. Um sich vor Verrat zu schützen, bat er drei Freunde um Hilfe, die er schon sehr lange kannte und auf die er sich verlassen konnte. Er kannte sie aus der verfluchten Zeit, als sie gemeinsam bei Cesare Borgia in Sold und Brot gestanden hatten.
Die erste und wichtigste Aufgabe bestand darin herauszufinden, wo die Entführer Lucrezia versteckt hielten. Die Chancen, das Mädchen lebend zu befreien, standen schlecht. Zum einen durfte Ascanio bei seiner Suche nicht das geringste Aufsehen erregen, und zum anderen hatte er für dieses Meisterstück keine fünf Stunden mehr zur Verfügung.
Wie oft hatte er in den vergangenen Wochen den Architekten bei seinen Gesprächen mit dem Mädchen nach der Morgenandacht in der Klosterkirche San Silvestro in Capite beobachtet, wie oft hatte ihn dieses Bild – der alternde Mann im gelösten Gespräch mit dem anmutigen Mädchen – gerührt. Sie wirkten wie Tochter und Vater. Ohne es zu merken, hatte der Söldner Lucrezia allmählich ins Herz geschlossen. Und nun trachtete ein Mann, dessen Hände nicht Blut vergießen, sondern Segen spenden sollten, nach ihrem Leben. Zur Genüge hatte Ascanio die Gewalt erlebt in den Jahren, als er mit seinem Rapier unterwegs gewesen war und sich als Landsknecht, dann wieder als Leibwächter verdingt hatte. Die Gewalt, die von den Mächtigen und Starken ausging und die die Machtlosen und Schwachen nur aus dem einen Grund traf – weil sie schutzlos waren und ein Leben so herzlich wenig galt. In seinem Beruf konnte er nicht damit rechnen, ein gesegnetes Alter zu erreichen. Doch nachdem er im Gefolge von Cesare Borgia Zeuge der Plünderungen und Grausamkeiten geworden war, hatte er beschlossen, mit seinem Degen künftig die Menschen vor den Übergriffen der großen Herren zu schützen. Zwar hatte er nichts anderes als das Waffenhandwerk gelernt, aber das wollte er gegen die Willkür einsetzen. Vielleicht schlug hier das Erbteil seines Vaters durch, den er nie kennengelernt hatte. Er sollte ein Priester gewesen sein und – bis auf den Fehltritt, dem Ascanio sein Leben verdankte – ein fast heiliger Mann.
Nachdem Ascanio und seine Freunde ausgeschwärmt waren und sich in der römischen Unterwelt umgehört hatten, trafen sie sich wie ausgemacht auf der Tiberinsel wieder. Viel hatten sie nicht in Erfahrung gebracht, nur dass das Narbengesicht bei einer Dirne in Trastevere, in der Nähe der Via Portuense wohnte. Um nicht aufzufallen, erwarben sie bei einem jüdischen Trödler in der Nähe des Fischmarktes im Rione Sant’Angelo bei dem Portico der Ottavia einige Lumpen und versteckten unter den weiten Stoffen ihre Dolche und Degen. Schließlich rieben sie sich Gesicht und Hände mit Straßenschmutz ein, was ihnen zudem einen unverkennbaren Geruch verlieh.
Als sie das niedrige, zweigeschossige Haus erreichten, das sich schief an das Nebenhaus anlehnte, sah sich Ascanio vorsichtig um. Niemand verfolgte sie, und es standen auch keine Späher vor dem Haus. Zwei seiner Freunde, Baccio und Eugenio, postierten sich in einigem Abstand, während Ascanio und Gustavo, ein ellenlanger Kerl aus Pisa und Feind aller Florentiner, schnell und unauffällig durch die niedrige Eingangstür schlüpften. Der dunkle Flur führte auf einen Hof. Links ging eine schmale und dunkle Treppe in den ersten Stock ab. So leise wie möglich stiegen die beiden Männer die Stufen hinauf. Dann standen sie vor einer schäbigen Tür, deren Bretter unten und oben mürbe und zerfallen waren. Es roch modrig. Die Wände glänzten feucht und schwarz. Mit einem kurzen, harten Tritt sprengte Gustavo die Tür auf. Drinnen riss eine Frau, vermutlich die Geliebte des Narbengesichts, erschrocken die Hände an den Kopf. Ascanio schob sie unsanft beiseite und trat in das Zimmer, in dem eine junge Frau mit langem, fettigem Haar in einer undefinierbaren Farbe auf einem Schemel hockte und Knoblauch schnitt. Gut möglich, dass nicht die Alte, sondern die Junge das Liebchen des Entführers war. Ganz gleich, er würde beide befragen.
»Wenn ihr vernünftig seid, passiert euch nichts«, fuhr er sie barsch an und zog seinen Dolch. Die Augen der Frauen weiteten sich. Die Ältere schielte zu einem großen Kessel auf der steinernen Kochstelle.
Ascanio konnte bequem dem langsamen Gang ihrer Gedanken folgen. »Daran würde ich an deiner Stelle nicht einmal im Traum denken«, raunzte er sie an. »Wo ist das Narbengesicht?«
Die beiden Frauen warfen sich einen ängstlichen Blick zu. »Ich kenne kein Narbengesicht. Ihr müsst mich verwechseln, Herr!«, beteuerte die Ältere.
Ascanio ging ungerührt zum Herd, schaute in den Kessel, in dem Nudeln kochten, zog mit einem lauten Geräusch den Schleim hoch und spuckte kräftig hinein. Die beiden Frauen reagierten nicht. Das Essen schien ohnehin nicht für sie bestimmt zu sein. »Für wen kochst du so viel Pasta?«, fragte Ascanio freundlich.
»Ich betreibe eine Küche für die Schiffer.«
Ascanio lachte so laut, als hätte er den besten Witz seines Lebens gehört. Dann versteinerte sich sein Gesicht. »Das Narbengesicht ist so gut wie tot. Rettet wenigstens euer Leben. Ich habe kein Interesse daran, euch abzustechen. Mit euch habe ich keinen Streit.«