Wieder schauten sich die beiden Frauen an. Diesmal antwortete die Jüngere, die mit dem langen, fettigen Haar. »Warum sollten wir Euch trauen?«
»Weil ich das, was ich wissen will, auf die eine oder andere Art sowieso erfahre«, erklärte Ascanio. »Die Frage ist nur, ob ihr unbeschadet und mit einem kleinen Lohn aus der Geschichte geht oder ob ihr mich zwingt, euch zu foltern und zu töten. Das wird nach der peinlichen Befragung keine große Sache mehr sein. Die Entscheidung liegt ganz bei euch.«
Die ruhige Gelassenheit, die Ascanio ausstrahlte, gab den Frauen das Gefühl, dass er ihnen nichts vormachte, sondern so handeln würde, wie er es angekündigt hatte. Ihr Umgang mit Spitzbuben hatte sie zu unterscheiden gelehrt, wann sie einen Fachmann und keinen Schwätzer vor sich hatten. Die Ältere nickte dem Mädchen zu.
»Was haben wir davon, wenn ich dir meinen Mann ausliefere?«, fragte die Junge.
»Zwei Goldscudi!« Ein schiefes Lächeln erschien auf ihrem schmutzigen Gesicht. So viel Geld hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen! Doch der Preis für den Verrat an ihrem Mann ging in Ordnung – er betrug das Zehnfache von dem, was ein Auftragsmord für gewöhnlich kostete.
»Gut, wir kochen für die Männer.«
»Wo sollt ihr das Essen hinbringen?«
»In die Kirche Santi Cosma e Damiano.«
»Die auf dem Forum?«, fragte Ascanio. Die beiden Frauen schauten den Fremden wie blöde an, sie wussten offensichtlich nicht, was er meinte. »Auf dem Campo Vaccino«, verbesserte er sich.
»Genau die Kirche! Die, welche geschlossen ist!«, krähte die Alte.
»Und wer soll das Essen hinbringen?«
»Wir beide.« Ascanio und Gustavo musterten die beiden Frauen skeptisch. »Wir wollten uns ein paar junge Burschen mieten, die tragen helfen.«
»Ihr habt die Burschen gefunden«, sagte Ascanio und grinste Gustavo an. »Wir werden dicht hinter euch sein. Eine falsche Bewegung, und ihr macht zum ersten und zum letzten Mal Bekanntschaft mit meinem Dolch.«
Nicht lange darauf näherte sich eine kleine Gruppe der Kirche, die den beiden heiligen Ärzten aus Byzanz geweiht war. Es war eine seltsame Prozession: Vorn schritten die beiden Frauen, gleich dahinter ging Ascanio mit einem Korb mit Graubrot unter dem Arm. In der anderen hielt er den Dolch im Ärmel. Er trug einen schwarzen Verband über einem Auge und hatte einen schäbigen Federhut tief ins Gesicht gezogen. Ansonsten trug er eine Kniehose und einen Umhang aus braunem Sackleinen. Ihm folgten Baccio und Eugenio, die beide eine Filzkappe auf den Kopf gestülpt hatten und einen dicken Holzknüppel trugen, an dem zwischen ihnen der schwere eiserne Kessel mit der Pasta schaukelte. Den Schluss bildete der baumlange Gustavo, der in einer geflochtenen Kiepe auf dem Rücken Krüge mit verdünntem Wein schleppte.
Ascanio bemerkte, dass sie aus dem Fenster eines Anbaues beobachtet wurden, der sich rechts an den Tempel lehnte. »Jetzt kommt für euch alles darauf an, dass ihr keine Dummheiten macht«, raunte er den Frauen zu. »Ja, Herr«, antworteten beide wie aus einem Mund. Man konnte die Angst in ihren Stimmen hören. Ascanio schaute zur Sonne, die er hinter einem Wolkenband links von sich ahnte. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Die Sonne stand bereits sehr tief.
Vor Giacomo il Catalano auf dem Wandtisch stand ein Holzbottich mit Wasser. Nachdem er sich das Gesicht, den Oberkörper, die Achseln gewaschen hatte, betrachtete er sein Spiegelbild. Ein markantes Gesicht mit gebräuntem Teint, großen schwarzen ausdrucksvollen Augen. Weder hingen die Wangen, noch zeigten sich Ansätze eines Doppelkinns, alles wirkte straff und jung. Nur in einzelnen Silberfäden im ebenholzfarbenen Haar hielt das Alter Einzug. Es verlieh ihm einen eigenen, einen neuen Reiz. Am Oberkörper selbst kein Gramm Fett zu viel. In seine Augen hatte sich in der letzten Zeit eine gewisse Traurigkeit eingeschlichen. Oder war das, was er für Melancholie hielt, am Ende nur Kälte? Hatte der Tod, den er so vielen Menschen gegeben hatte, sich in seinen Augen eingenistet?
An der Wand hinter ihm hing der Entwurf für den Neubau von Sankt Peter seines Ordensbruders, des Architekten Frà Giocondo. Kurz schaute er darauf, dann tauchte er sein Gesicht in das kalte Wasser, zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und blickte auf den Grund des Bottichs. Die Flüssigkeit drückte auf seine Netzhaut. Der Grund kam ihm nah und zugleich weit entfernt vor. Die Abstände verschwammen unter der Oberfläche.
Plötzlich ertappte sich Giacomo dabei, wie sehr er sich danach sehnte, dass eine Hand gebieterisch in seinen Nacken griff, ihn unter Wasser hielt und ihn selbst dann daran hinderte aufzutauchen, wenn er bereits keine Luft mehr hatte und wieder atmen musste. Ertrinken wäre wohl nicht das Schlechteste, dachte er, wenn man ein Alter erreicht hatte, in dem es genügend Erinnerungen gab, die einen in den nassen Tod wiegen würden. Denn Sehnsucht war nur ein anderer Name für Erinnerung. Natürlich wusste der Mensch, was er suchte, auch wenn er es nicht zu benennen verstand. Die Menschen verwechselten das nur. Weil sie keine Bezeichnungen dafür hatten, glaubten sie, es nicht zu kennen. Das machte aber nichts. Manchmal versteckte sich die Sehnsucht hinter einem Geruch oder in einem Klang.
Nicht so für Giacomo. In den Tiefen seines Gedächtnisses schlummerte ein unscharfes Bild, so als ob er es am Grund des Wassers sah. Ein Tisch, um den herum Menschen saßen, ein Mann mit einem schwarzen Bart, einem markanten Gesicht und einer hohen Stirn, ihm nicht unähnlich, ein Junge, ein Mädchen, eine Frau mit großen blauen Augen und einem spöttischen und zugleich gütigen Lächeln, was sich eigentlich ausschloss, nicht aber bei ihr. Der Mann begann, mit wohlklingender Stimme zu singen:
»Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn!
Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jeruschalajim.
Jeruschalajim ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des Herrn,
wie es geboten ist dem Volke Israel,
zu preisen den Namen des Herrn.
Denn dort stehen die Throne zum Gericht,
die Throne des Hauses David.
Wünschet Jeruschalajim Glück!
Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Freunde Willen
will ich dir Frieden wünschen.
Um des Hauses des Herrn Willen,
unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.«
Giacomos Körper wollte, dass sein Kopf auftauchte – sein Geist wollte tiefer in den Bottich hinein. Seine Hände umkrampften den Rand des Holzgefäßes. Er machte den Nacken steif und drückte das Gesicht tiefer, näher zum Grund. Mit aller Kraft. Es war ein stiller, verbissener Kampf zwischen Geist und Leib, der in seinem Körper tobte. Dann spürte er, wie Wasser in seinen Mund drang und ihm schwarz vor Augen wurde. Die Instinkte schleuderten seinen Kopf nach oben. Er wankte, hustete und spuckte. Sein ganzer Oberkörper, der von den Attacken ergriffen und geschüttelt wurde, wehrte sich gegen das Wasser, das in ihn eingedrungen war. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte.
Dann sah er im Spiegel sein bleiches, gehetztes Gesicht. War er das? Er nahm ein Handtuch und trocknete sich Gesicht und Oberkörper ab. Er war es. Ein Söldner Gottes. Vielleicht sogar Gottes Teufel. Aber die Lämmer brauchen den Wolf. Ohne ihn würde der Übermut in ihnen die Oberhand gewinnen und die Ordnung, die sie zum Leben benötigen, zerstören. Er war der, den niemand wollte, den aber alle brauchten. Für den wahren Glauben hatte er gekämpft und gelitten – ja, das alles –, aber letztlich hatte er auch viel erreicht. Gleich würde er den letzten, den tödlichen Schlag gegen die Fedeli d’Amore führen und gegen das wiedererstarkte Heidentum, das drohte, Christi Kirche von innen heraus zu zerstören. Seine Mission hätte sich erfüllt, wenn die Priester zurückgekehrt wären zu christlicher Demut, zu Reinheit und Frömmigkeit und der Sünde in Worten und in Taten entsagten.