»Es ist vorbei, Lucrezia, du bist in Sicherheit«, flüsterte er und strich ihr tröstend über den Kopf. »Es ist vorbei.«
Als sie das Kirchenschiff durchquerten, warf Ascanio seinen Freunden einen dankbaren Blick zu. Eugenio und Baccio hatten ganze Arbeit geleistet. Vor der Tür sah er sich noch einmal um. Zu Christus, der immer noch die Arme geöffnet hatte, auf die beiden heiligen Ärzte, Cosma und Damian, und dann auf die bravi, die vor dem Altar und im Schiff lagen. Ihnen würden nicht einmal mehr die Wunderärzte helfen können. Die ältere der beiden Frauen kniete schluchzend neben der Leiche von Ranuccios Angetrauter. Als er den Blick wieder nach vorn wandte, gefror ihm das Blut in den Adern. Vor ihm stand Ranuccio und warf einen Dolch nach Lucrezia. Instinktiv schob sich Ascanio vor das Mädchen. Ein Schmerz durchzuckte ihn. Er hatte mit seinem Leib das Messer aufgefangen. Er griff sich an die rechte Schulter und zog es heraus. Dann legte er das Heft des Rapiers in seine linke, das Heft des Dolches in seine rechte Hand. Die Verletzung würde die Kraft in seinem rechten Arm schwächen, aber er kämpfte mit der Rechten so gut wie mit der Linken. Damit hatte er schon so manchen Gegner böse überrascht.
»Vielleicht will der Lange dir noch was sagen, bevor er verreckt«, höhnte das Narbengesicht und warf ihm etwas vor die Füße. Gustavos Zunge. Der Tod des Waffengefährten so vieler Jahre, so vieler Kämpfe traf Ascanio mitten ins Herz. Wie oft hatten sie in ausweglosen Situationen einander beigestanden und sich gegenseitig das Leben gerettet? Gustavo wäre gern Arzt geworden. Im Grunde seines Herzens wollte er nicht Menschen töten, sondern Menschen helfen. Doch es hatte nicht sein sollen. Er wurde unter einem anderen Stern geboren – nicht Merkur, sondern Mars stand an seiner Wiege.
Ascanio hatte zu viele Kämpfe erlebt und vor allem überstanden, um seine Sinne von Trauer oder Wut trüben zu lassen. Die Zeit dafür würde noch kommen. Er ging auf Ranuccio zu.
»Verzeih, aber ich brauche deine Narbe. Ich will sie dem Kardinal schicken«, sagte er, als würde er den Mann um eine Haarsträhne bitten.
»Nur zu, dann hol sie dir«, gab Ranuccio gelassen zurück. »Aber winsele nicht wie dein Freund, wenn es anders kommt.«
Wenn man den beiden Männern zuhörte, die nun mit gezückten Rapieren aufeinander losgingen, hätte man meinen können, das Ganze sei ein Spiel. Der helle Klang der aufeinandertreffenden Klingen hallte in der Kirche wider. Baccio legte seinen Arm um die zitternde Lucrezia. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Brust.
»Mach’s kurz, Ascanio. Das arme Mädchen hat genug gelitten«, rief Baccio quer durch das Schiff. Doch Ranuccio trieb ihn mit kräftigen Hieben zurück, und Ascanio wirkte alles andere als überlegen. Im Gegenteil, das Narbengesicht focht besser. Der mit Macht vorgetragene Angriff des kampferfahrenen Spitzbuben schien ihn zu beeindrucken und zu verunsichern.
»Gleich habe ich dich, dann werde ich dir das Herz rausschneiden und der da vor die Füße legen, bevor ich ihren jungen Körper genießen werde«, rief Ranuccio mit einem hämischen Grinsen und hieb wieder zu. Ascanio musste erneut zurückweichen, kam ins Stolpern und stürzte mit einem schmerzhaften Aufschrei auf den Rücken. Das Messer fiel aus seiner Hand. Ranuccio grinste siegessicher und zielte mit seinem Rapier auf Ascanios Herz. Doch der rollte sich blitzschnell zur Seite, sprang auf, zertrümmerte mit der Spitze seines Degens die Schläfe seines Gegners. Tiefer und tiefer trieb er die Klinge in dessen Schädel, bis sie auf der anderen Seite wieder aus dem Kopf austrat. Mit einem Ruck zog er den Degen heraus, Blut und Hirn folgten. Ranuccio drehte sich Ascanio zu und schaute ihn starr an. Seine weit aufgerissenen Augen erkalteten zusehends. Als die Leiche hart auf dem Boden aufschlug, war Ascanio schon nach draußen geeilt und kniete neben dem in seinem Blut liegenden Gustavo. Der Freund blickte ihn aus halb geschlossenen Augen an. Sie glänzten feucht und unendlich traurig. Gustavo hätte ihm so gern noch etwas gesagt zum Abschied, aber sein Mund war voller Blut und die Zunge nur noch ein Stumpf. Bedauernd blinzelte er Ascanio zu, dann lächelten seine Augen noch einmal, als wollte er sagen, siehst du, wir haben es wieder einmal geschafft. Doch die Reise, die nun folgte, würde er allein antreten müssen. Gustavo legte seine große, kraftlose Pranke in die Hand seines Waffengefährten und verstarb leise und unspektakulär. Sein Kampf war ausgefochten. Das resignierte Lächeln auf den Lippen des Freundes trieb Ascanio die Tränen in die Augen. Er hatte nicht gewusst, dass er überhaupt noch weinen konnte. Dann sprach er das Totengebet, das er in den vielen Jahren, in denen er von seinem gefährlichen Handwerk lebte, so oft für gute Männer gesprochen hatte:
»Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr, höre meine Stimme!
Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen!
Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.
Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.
Mehr als die Wächter auf den Morgen soll Israel harren auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.«
So hätte Gustavo es gewollt. Leise fügte Ascanio hinzu: »Herr, nimm ihn zu dir. Er war ein guter Mann. Amen.« Dann bekreuzigte er sich, stand auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Nach einem Räuspern sagte er: »Baccio, lass uns erst Lucrezia zu Messèr Chigi bringen. Aber danach kümmern wir uns um ein anständiges Begräbnis für unseren Freund. Er war der Beste von uns.«
Betreten stimmten ihm Eugenio und Baccio zu, während Lucrezia neben dem Toten niederkniete und ihn auf die Stirn küsste. Sie nahm ihr Kreuz vom Hals und band es Gustavo um. Die Männer beobachteten die Geste, die sie rührte. Durch die geöffnete Tür der Rotunde und durch die Seitenfenster brach das Licht der Abendsonne durch die Wolken, die sich vor ihrer Kraft auflösten und zurückzogen. Ja, jetzt kam der Frühling und vertrieb die dunklen Tage! Ascanio schien es, als hätte Gott die Strahlen eigens geschickt, um Gustavos Seele abzuholen und ihr ein sicheres Geleit in den Himmel zu geben. Er atmete tief ein, dann sprach er weiter: »Und du, Eugenio, schneide dem Vieh da die Wange mit der Narbe ab, und bring sie dem Kardinal Catalano. Aber sei vorsichtig. Wir hatten schon mehr Verluste als genug.«
36
Rom, Anno Domini 1506
Der Kardinal saß ungeduldig auf einem Lehnstuhl und konnte es kaum erwarten, dass der redselige Augustiner-Eremit endlich seinen langatmigen Vortrag beendete. Selbst den Papst, der den brillanten Prediger schätzte, überkam langsam, aber offensichtlich eine Unruhe. Giacomo indes wollte nur eines hören: dass Bramante zurücktrat. Nach zwei längeren Einschüben kam Egidio endlich zum Ende.
»Verehrter Egidio, heute hast du dich in der Eleganz deines Vortrags selbst übertroffen«, sagte Julius II., und Giacomo meinte, ihn dabei innerlich aufatmen zu hören. »Was gibt es über den Fortgang der Vorbereitungen zum Neubau Unserer Kirche zu berichten, Donato?«
Giacomos Augen klebten förmlich am Gesicht des Architekten. Bramante erhob sich langsam, sehr langsam. Der Kardinal konnte sehen, wie schwer es ihm fiel.
»Die Planungen selbst kommen gut voran, Heiliger Vater«, begann der Architekt. »Einer Grundsteinlegung am 18. April steht eigentlich nichts im Wege …«