»Francesco, es geht nach Hause, es geht nach Florenz«, rief er.
Mit ungläubigem Blick kam der Diener aus der Küche. Er konnte keine Frage stellen, denn sein Mund war voller Essen, das er so schnell wie möglich hinunterzuschlucken bemüht war, wobei er sich die fettigen Hände an seiner blauen Hose abwischte.
»Verkauf die Werkstatt und alles, was uns gehört, und dann komm mit dem Geld nach.«
»Und Ihr, Maestro?«
Der Bildhauer fühlte sich todmüde, doch die Panik drängte ihn vorwärts »Ich reite sofort los, um mich in Sicherheit zu bringen. Jede Minute länger kann für mich den Tod bedeuten.«
»Was ist mit dem Papst?«
»Wenn Julius mich in Zukunft brauchen sollte, muss er suchen, wo ich zu finden bin.« Mit diesen Worten zog Michelangelo seinen schwarzen Mantel über, setzte einen runden Hut auf und begab sich zur nächsten Poststation an der Porta Santo Spirito. Dort mietete er ein Pferd, schwang sich auf den Rücken des Schimmels und verließ die Stadt Rom.
Plötzlich empfand er unbändige Freude. Er würde Florenz wiedersehen, seinen Vater und seine Brüder, vor allem seinen Lieblingsbruder Buonarroto wieder in die Arme schließen! Er verstand nicht mehr, wie er es so lange in Rom, dieser von Grund auf verdorbenen Stadt, hatte aushalten können. Nun, wo er sich auf dem Weg Richtung Norden befand, verspürte er ein heftiges Heimweh und gleichzeitig das beglückende Gefühl, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis er seine Heimatstadt wiedersah. – Es war Karfreitag, der 17. April 1506.
38
Rom, Anno Domini 1506
Und plötzlich endete der Winter. Der Frühling verwöhnte die Römer mit fast sommerlichen Temperaturen. Fast gleichzeitig mit den Schneeglöckchen sprossen Krokusse und sogar vereinzelt Maiglöckchen auf dem freien Feld, das sich etwa siebzig Fuß weit zwischen der kleinen Gruppe aus Männern und der Kapelle der heiligen Petronilla, hinter der sich die Petersbasilika erhob, erstreckte. Es war, als hätte die Natur schon ungeduldig auf die ersten warmen Strahlen gewartet, um sich vom Todesschlaf der eisigen Jahreszeit zu befreien und Auferstehung zu feiern.
Ein leichter Wind umspielte Bramantes inzwischen vollkommen ergraute Haare. Seine rechte Hand schmerzte wieder unter den Attacken der Gicht. Unheilvoll glänzte sie in tiefem Rot. Er verbarg die Krankheit nicht mehr unter Handschuhen, weil er es nicht mehr nötig hatte. Niemand konnte derzeit seine Stellung erschüttern.
Bramante spürte, wie ihn eine geradezu jugendliche Erregung überfiel und fast wehrlos machte. Keine Meile von der Petersbasilika würde der erste der vier mächtigen Pfeiler in den Himmel wachsen, die eines nicht sehr fernen Tages diesen steingewordenen Spuk der Vergangenheit wegfegen würden. Beide Aussichten erfüllten ihn mit unbändiger Lust – Aufbau und Abriss. Sein Neubau würde sich von hier aus Meile für Meile in den Altbau bohren und ihn schließlich sprengen.
Der junge Bauunternehmer Maffeo Maffei, Antonio da Sangallo, den er als Gehilfen inzwischen nicht mehr missen wollte, dessen Onkel Giuliano und drei Maurergesellen von Maffei standen um ihn herum. Noch nie in seinem Leben hatte Bramante seinen alten Bundesbruder Sangallo so blass gesehen. Fast schien es ihm, als setzte sich die Bleiche bis in seine Bartspitzen fort.
»Fühlst du es, Donato?«, raunte ihm der alte Baumeister zu. »Die Hand Gottes, die durch uns hindurch wirkt?«
Einer plötzlichen Eingebung folgend, umarmte Bramante den Freund und Konkurrenten heftig. »Sag es keinem weiter, aber es ist meine Pranke, die hier wirkt. Mögen die andern es für Gottes Hand halten. Jedem seinen Aberglauben.« Der Architekt lächelte über das ganze Gesicht, und seine Augen blitzten spöttisch.
»Versündige dich nicht!«, warnte Sangallo.
»Bauen zu wollen ist Sünde, mein alter Giuliano, aber mit Bauen zu beginnen heilt die Sünde. Keine einzige Kirche wurde von Heiligen errichtet. Hätten sie es gewagt, hätten ihre elenden Steinhaufen kein Tedeum überstanden.«
Sangallo löste sich aus der Umarmung und bekreuzigte sich verstohlen. Der leitende Architekt von Sankt Peter aber beschloss, sich nicht von der weihevollen und ehrfürchtigen Stimmung anstecken zu lassen. Davor sollten ihn sein Spott und seine Lästerungen schützen. Unter allen Umständen musste er einen kühlen Kopf bewahren, sonst wäre er ein schlechter Baumeister und würde Fehler begehen. Demonstrativ schaute er nach unten. Mitten im Boden klaffte ein breites, fünfundzwanzig Fuß tiefes Loch, in das eine Leiter hinabführte.
Bramante wandte sich um. Ein paar Schritte neben ihm standen Ascanio, Lucrezia, Imperia und Agostino Chigi sowie die Bauarbeiter. Hinter ihnen fiel sein Blick auf ein unüberschaubares Gewimmel von Schaulustigen, die ungeduldig auf den Beginn der Zeremonie warteten. Maffeo Maffei hatte Wort gehalten und es trotz der Ächtung der altgedienten Meister geschafft, fünfzig Bauleute zusammenzurufen. Aus einer Sänfte, die vier Diener neben dem Bankier abgesetzt hatten, schaute die tapfere Margarita Saraceni heraus. Sie hatte trotz ihrer stark angegriffenen Gesundheit darauf bestanden, der Grundsteinlegung für die Kirche des Apostelfürsten beizuwohnen. Bramante warf ihr einen freundlichen Blick zu, und sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln.
Plötzlich drang zwar noch von fern, aber deutlich ein vielkehliges Kyrie an sein Ohr, das von Sekunde zu Sekunde immer lauter wurde. »Christe eleison«. Als wären die Vögel übereingekommen, sich dem Gesang anzuschließen, vernahm er in den Pausen das Gezwitscher der Rotkehlchen und Zeisige, die immer fröhlicher und lauter tirilierten. Noch näher und näher erklang das Kyrie, und kurz darauf entdeckte Bramante das mannshohe Mahagonikreuz hinter der Petronillakapelle, getragen von Giacomo Kardinal Catalano, dahinter die hochgewachsene Gestalt des Papstes, gefolgt von den Zwergen des Hofstaates und von Adligen der großen Geschlechter der Ewigen Stadt, der Orsini und Colonna und Conti. Es folgten die Kaufleute aus dem Borgo, Römer aus allen Schichten der Bevölkerung, auch Pilger, die just in dem Moment, in dem sie die Kirche verließen oder betreten wollten, die Prozession entdeckt und sich ihr angeschlossen hatten. Links und rechts des Stellvertreters Christi schritten zwei Kardinaldiakone und hielten Palmwedel über sein Haupt.
»Gloria in excelsis Deo
et in terra pax
hominibus bonae voluntatis …«
War er ein Mensch guten Willens?, fragte sich Bramante. Hinter dem Papst erkannte er den Medailleur Cardosso, der ein irdenes Gefäß vor dem Körper hielt. Langsam und feierlich näherte sich die Prozession.
»Quoniam tu solus Sanctus,
tu solus Dominius,
tu solus Altissimus,
Jesu Christe,
cum Sancto Spiritu,
in gloria Dei Patris. Amen.«
Er allein ist der Heilige … In Gedanken hing Bramante dem Gloria nach. Ruhm gebührte allein dem Vater, dem Schöpfer des Himmels und der Erde und auch dem Baumeister des Tempels, also auch ihm. Und natürlich diesem kraftvollen, kriegerischen Pontifex, der in seinem goldgewirkten Messgewand über der weißen Soutane und dem im Sonnenschein leuchtenden Silber der Haare und der mächtigen dreifachen Tiara wie ein neuer Cäsar, ein neuer Augustus wirkte. Zu Recht trug Julius II. die dreifache Krone, das Zeichen der dreifachen Herrschaft, dachte Bramante beim Anblick des Papstes, denn dreifache Gewalt war ihm gegeben als Vater der Könige, als Herrscher der Welt und als Stellvertreter Christi.