»Wenn du magst, nimm dir einen Wein.« Giovanni de Medici wies mit dem Kopf auf ein schmales Regal an der Wand, auf dem ein Krug und ein paar Becher standen. Der Baumeister lehnte dankend ab und erkundigte sich freundlich, womit er ihm dienen könne. Über Giovannis dickes, unschönes Gesicht flog ein freundliches Lächeln, das die Hässlichkeit der Züge sofort vergessen machte. Obwohl er den Kardinal oft traf, wunderte sich Bramante jedes Mal, wie wunderbar es der Medici verstand, durch sein liebenswürdiges Wesen die Nachteile seines Äußeren auszulöschen.
»Ich liebe Feste! Aber ich feiere sie nicht wahllos. Sie haben immer einen verborgenen Anlass.«
Gern hätte sich der Architekt nach dem fremden Mann in der Ecke erkundigt, aber ihn vorzustellen lag allein im Ermessen des Hausherrn.
»Seid so gütig, und nennt mir den Grund für das Fest. Ich werde schweigen!«, sagte Bramante.
»Schwört!«
»Ich schwöre!«
»Bei den Fedeli d’Amore!«
Bramante stutzte. Was wusste der Kardinal über den alten Geheimbund? Dunkel erinnerte er sich, dass Pico einmal erwähnt hatte, dass der Sohn Lorenzos des Prächtigen dem Bund angehörte. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu dem schweigenden Mann in der Zimmerecke. Giovanni de Medici wiederholte seine Aufforderung. Der unheimliche Gast ließ keine Regung erkennen. Er erinnerte Donato an einen Inquisitor.
»Bei den Fedeli d’Amore!«, schwor der Baumeister mit zitternder Stimme.
»Weißt du wirklich nicht, was heute für ein Tag ist?«, fragte der Kardinal mit einem feinen Lächeln. »Das würde mich enttäuschen.«
Die Antwort schien auf der Hand zu liegen und mit den Gefährten der Liebe zusammenzuhängen. Bramante dachte nach, und plötzlich fiel ihm die Lösung ein. Sie war so offensichtlich, dass er von allein nicht darauf gekommen war. »Dantes Geburtstag!«
»Na bitte, es geht doch. Dantes Geburtstag, ja!« Giovanni de Medici erhob sich umständlich aus dem Sessel. Mit einem flüchtigen Blick erkannte Bramante, dass es sich bei der Handschrift auf dem Tisch um eine Ausgabe von Dantes »Convivio« handelte.
»Mein lieber Bruder, der Princeps Concordiae hat mich damals in den Orden eingeweiht«, sagte Giovanni fast flüsternd. »Ich bin zu keinen Zusammenkünften erschienen, da ich dafür noch zu jung und auch schon Kardinal war. Und ein Kirchenfürst als Gefährte der Liebe schickt sich nicht. Auch mein guter Vater hätte meine Mitgliedschaft missbilligt, denn ein Medici mag vieles unterstützen, aber sich an nichts binden. Kurzum, ich will, dass der Orden seine Arbeit wieder aufnimmt!«
Dann erfuhr Bramante, dass Giovanni de Medici den Neubau des Petersdomes als Zentralbau unter einer mächtigen Kuppel begrüßte. Da aber niemand wusste, wie lange Julius oder Bramante noch lebten, müssten Vorkehrungen getroffen werden, damit das Werk in der richtigen Weise auch zu Ende geführt würde. Der Architekt trat zu dem Regal und goss sich Rotwein in einen Becher. Die vielen Neuigkeiten hatten seine Kehle ausgetrocknet.
»Aus der Heimat«, bemerkte Giovanni de Medici mit einem Blick auf den Weinkrug. »Wen wollen wir aufnehmen?«
Der Baumeister schlug Peruzzi und Antonio da Sangallo vor. Giuliano da Sangallo brachte Michelangelo ins Spiel.
»Nein, nein, auf keinen Fall«, widersprach Bramante heftig und leerte den Becher in einem Zug. Der Kardinal und Sangallo sahen ihn überrascht an.
»Michelangelo ist ein guter Bildhauer«, sagte Sangallo.
»Und ein begabter Maler«, ergänzte Giovanni de Medici und wies auf die obszönen Bilder an den Wänden. »Die sind von ihm.«
Donnerwetter, dachte Bramante, das hätte er dem Moralapostel gar nicht zugetraut.
»Und auch ein guter Maler, ja«, sagte er. »Aber er kennt nur sich, denkt nur an sich. Ich kenne keinen Menschen auf der Erde, Eminenz, der für einen geheimen Orden ungeeigneter ist als Michelangelo.«
Der Kardinal nickte zustimmend. »Leider, leider! Er kennt keine Treue. Im Stich hat er Piero und mich gelassen und ist eine Woche vor unserem Sturz klammheimlich aus der Stadt verschwunden.«
»Da könnten wir genauso gut den Erzpriester der Peterskirche fragen«, sagte der Architekt lachend.
»Aber der steht schon einer geheimen Bruderschaft vor, der Archiconfraternia in segreto, die sich das Ziel gesetzt hat, die wahre Lehre der Kirche zu verteidigen.«
Bramante staunte. »Woher wisst Ihr das?«
»Ach, man hat so seine Quellen.«
»Dann wisst Ihr auch, dass Giacomo Kardinal Catalano den Grafen Pico della Mirandola getötet hat?«
Der Kirchenfürst erbleichte. »Hast du Beweise?« Bramante schüttelte den Kopf. »Aber du bist sicher?«
»Ich hätte ihn in Florenz beinahe auf frischer Tat ertappt«, sagte Bramante. »Außerdem hat er es mir gestanden.«
Für den Bruchteil einer Sekunde verdüstert sich das Gesicht des Kardinals, dann wirkte es wieder ausdruckslos. Der Sohn Lorenzos hatte von seinem Vater die Fähigkeit geerbt, niemanden merken zu lassen, was er dachte, fühlte und plante. Giovannis eigentliche Ziele blieben allen verborgen, selbst seinen besten Freunden.
»Dann hat der Katalane auch das Bundesbuch.«
»Nein, das habe ich«, verkündete Bramante stolz.
»Gut, dann bereitet alles für die Aufnahme von Antonio und Baldassare vor. Wie ich höre, gibt es in Florenz einen jungen begabten Mann aus Urbino. Einen Landsmann von dir, Donato, Raffael mit Namen. Schau ihn dir an, und prüfe ihn. Nach der Initiation kommt das Buch zu mir. Über die Angelegenheiten des Bundes werdet ihr nicht direkt mit mir in Verbindung stehen, sondern mit meinem Vertrauten.« Der Kardinal wandte sich zu dem Bischof, der noch immer wie eine Statue in der Ecke des Zimmers stand. »Bernardo Dovizzi da Bibbiena.« Der Angesprochene verneigte sich leicht. »Über meine Mitgliedschaft haltet strengstes Stillschweigen, wenn euch euer Leben lieb ist!«, fügte Giovanni de Medici hinzu.
Noch nie hatte der Architekt den weichlichen, beleibten Mann eine Drohung ausstoßen hören. Sie wog deshalb doppelt schwer.
Gleich am nächsten Morgen wurde Bramante von einem Entschluss des Papstes überrascht, der den Plänen zum Wiederaufbau des Geheimbundes eine eigene Dynamik verlieh. Die Baglioni in Perugia und die Bentivoglio in Bologna beabsichtigten, sich von der Oberherrschaft des Papstes loszusagen und ihre Städte aus dem Kirchenstaat zu brechen. Nun wollte Julius II. sich an die Spitze der päpstlichen Truppen stellen und die örtlichen Tyrannen vertreiben. Über den Feldzug munkelte man in der Kurie bereits seit Längerem und hatte dafür einige diplomatische Initiativen gestartet. Diese hatten aber nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt, weil weder der französische König noch der Kaiser ein Interesse daran hatten, den Papst zu stärken. Überdies war ihre Politik von den gegenseitigen Eifersüchteleien im Kampf um die Vormachtstellung in Europa beherrscht. Eines Tages dann war dem tatkräftigen Pontifex der sprichwörtliche Geduldsfaden gerissen. Nicht nur beim Kirchenbau lief ihm die Zeit davon, sondern auch bei der Wiedererrichtung des Kirchenstaates zu alter Größe.
»Wenn Wir das Heilige Land befreien wollen, dann müssen Wir zuerst den Kirchenstaat wieder aufrichten und die Räuber aus Unseren Landen jagen!«, hatte Julius II. kurz und bündig erklärt. Und Bramante als oberstem Architekten des Papstes und demzufolge auch Festungsbaumeister wurde befohlen, den Heiligen Vater auf dem Feldzug zu begleiten.
Selbst in Begleitung des Stellvertreters Christi war ein Feldzug ein riskantes Unternehmen. Bramante musste also dringend und so schnell wie möglich seine Angelegenheiten ordnen. Er wies Antonio an, mit dem zweiten Vierungspfeiler im Nordwesten zu beginnen und erteilte ihm alle Vollmachten für die Bauleitung. Aber was würde ein Antonio da Sangallo gegen einen gerissenen Kardinal wie Giacomo il Catalano ausrichten können? Bramante beschloss, sich in zweifacher Hinsicht abzusichern. Er sprach mit Egidio da Viterbo offen über seine Befürchtungen. Der Augustiner-Eremit wusste Rat. Er überzeugte Julius II. von der Klugheit der Anweisung, dass alle Kardinäle – bis auf jene, die zu alt oder siech waren – den Papst auf dem Feldzug zu begleiten hätten. Für die Zeit seiner Abwesenheit setzte Bramante Ascanio zum Hausherrn ein, eine Position, die dieser nur ungern einnahm. Der Leibwächter hätte es vorgezogen, Bramante zu begleiten, statt in Rom zurückzubleiben. Während Giuliano da Sangallo mit Baldassare Peruzzi ein vertrauliches Gespräch in Sachen Fedeli führte, sprach der Architekt in gleich diskreter Weise mit Antonio. So brach der 25. August 1506 an.