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Rom, Anno Domini 1506, 25. August

Am Morgen begleitete Bramante Lucrezia zur Andacht. Lange beteten sie in San Silvestro in Capite vor der Reliquie mit dem Haupt Johannes des Täufers. In gebührender Entfernung stand Ascanio. Als Leibwächter hatte er auch die Umgebung im Blick zu halten, doch seine Augen kehrten immer wieder zu Lucrezia zurück, die von Tag zu Tag schöner wurde. In ihrem Gesicht stand ein Wissen geschrieben, das sie noch nicht ganz erfassen konnte. Unter dem weißen Übergewand mit der hellblauen Schleppe zeichneten sich ihre festen, jungen Brüste ab.

»Der gute Gott soll dich beschützen, Donato«, flüsterte sie, nachdem sie ihr Gebet beendet hatte.

»Da du so darum bittest, wird er mir Legionen von Schutzengeln mitgeben.«

»Lästere nicht«, wies sie ihn sanft zurecht.

Der Architekt schaute sie zärtlich an und entdeckte eine Träne in ihren großen Augen. Gerührt fuhr er über ihr feines Haar. »Keine Angst, ich bin in Begleitung des Papstes.«

Lucrezia rang sich ein Lächeln ab. »Darf ich dich, wenn wir allein sind, Vater nennen?«, flüsterte sie.

Es war, als sprengte diese Frage die Fesseln um das Herz des alternden Mannes. »Ja und tausendmal ja!«

Als sie Arm in Arm zu Bramantes Palazzo zurückgingen, fragte Lucrezia plötzlich: »Hast du meine Mutter je gefragt, ob sie dich heiraten will?«

Was sollte der Architekt darauf antworten? Die Wahrheit, sicher. Nur war sie sehr verworren. »Ja, aber meine Verhältnisse waren ihr zu unsicher. Außerdem haben wir uns damals in das große Abenteuer gestürzt, den Dom zu bauen.«

»Gibt es denn ein größeres Abenteuer als die Liebe?«, fragte Lucrezia ernst.

Bramante blickte sie irritiert an. Das Mädchen merkte es und lachte. »Vater, ich bin kein Kind mehr. Ich meine nicht das Körperliche, sondern die Liebe, wie sie im Hohelied steht. Die Liebe, die von Gott kommt und uns zu Gott zurückführt.«

Er wollte sie schon fragen, was sie so sicher machte, dass es im Hohelied nicht auch um die Freuden der Geschlechtlichkeit ging. Doch er hatte berechtigte Zweifel, ob sie für diese Diskussion schon alt genug wäre.

»Mama liebt dich«, fuhr Lucrezia mit der schönsten Selbstverständlichkeit fort, »aber sie liebt auch Agostino.«

»Mehr als mich?«, fragte er erschrocken. Er hatte Imperia immer geglaubt, wenn sie beteuerte, dass es bei ihrem Verhältnis zu dem Bankier um Lucrezias Absicherung ging, dass sie niemals tiefere Gefühle für Chigi empfinden könnte.

»Anders als dich«, antwortete Lucrezia ausweichend und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann tat sie plötzlich geschäftig: »Ich muss das Frühstück anrichten, für meinen Vater und meine Männer!«

»Deine Männer?«, fragte Bramante verblüfft.

»Messèr Ascanio und Antonio. Oder soll ich sie etwa Brüder nennen?«, fragte sie und warf lachend den Kopf in den Nacken.

Nach einem reichlichen Frühstück, das aus Brot, Eiern, Schinken und Speck bestand, besichtigte der Architekt mit seinem Gehilfen den ganzen Tag über die Baustellen. Am Abend versammelten sich Giuliano und Antonio da Sangallo sowie Baldassare Peruzzi in Bramantes Werkstatt. Die Fensterläden waren geschlossen, nur Kerzen erleuchteten den Raum, der dadurch etwas Feierliches bekam. Auf dem Tisch standen ein Weinkrug und sieben Weinbecher aus rotem Ton. Auf einer Schale lagen Brotstücke mit eingebackenem Speck. Antonio und Baldassare war die Aufregung anzusehen. Sie traten von einem Fuß auf den anderen und warfen sich immer wieder angespannte Blicke zu. Endlich räusperte sich Bramante.

Dann erzählte er, wie es war, als er vor fünfzehn Jahren in den Bund des Grafen Giovanni Pico della Mirandola aufgenommen wurde. Er entschuldigte sich bei den beiden jungen Männern, dass ihre Initiation schmucklos und prosaisch verlaufen würde. Aber es fehle die Zeit, um nach Ravenna zu reisen und sich um Mitternacht in San Vitale zu versammeln. Letztlich spiele das jedoch keine Rolle, denn es ginge nicht um Zeremonien, auch nicht um die Feierlichkeit der Aufnahme, nicht um Erinnerung und auch nicht um die Liebe zur Vergangenheit, sondern einzig und allein um die Gegenwart und die Zukunft der Fedeli d’Amore.

An diesem Punkt wurde Bramante doch melancholisch zumute. Er erinnerte sich an San Vitale und an die verdammten Aufnahmerituale, an die Angst, die er ausgestanden hatte, dass er sich beinahe in die Hose gemacht hätte. Er dachte an Pico mit seinen großen blauen Augen, dem er in der Kirche zum ersten Mal begegnet war und den er sogleich in sein ansonsten treuloses Herz geschlossen hatte. Bis heute vermisste er ihn, den größten Denker, dem er je im Leben begegnet war. Auch an die dralle Schöne, die er in seinem Zimmer im Gasthaus »Zum tatkräftigen Hiram« in Ravenna bis zur Erschöpfung geliebt hatte, als er noch ein Stier war und nicht der traurige Ritter von der hängenden Rute. Damals, ja damals hatte er über viel Kraft und wenig Wissen verfügt, doch er war immer er selbst gewesen. Und heute? Nun, er war erfolgreich. Er fragte sich, wie sich die beiden jungen Männer entwickeln würden, die vor ihm standen. Würden sie leidenschaftlich und wild sein, nicht bloß frech und mit einer aufgesetzten Weltsicht, wie es in diesen Tagen zum guten Ton gehörte? Würden sie es wirklich wagen, ihre Überzeugungen allen gegenüber zu vertreten? Bramante konnte es nur hoffen – alle diese Opportunisten, die nichts verantworteten, die nichts konnten, diese mittleren Talente, die inzwischen überall das Sagen hatten, hingen ihm seit Langem zum Hals heraus. Im Vergleich zu diesen Leuten kamen ihm Schurken wie Giacomo Catalano regelrecht sympathisch vor, weil sie ein persönliches Risiko eingingen. Sicher, er würde sich bis ans Lebensende mit dem Kardinal bekriegen. Keiner von beiden würde aufgeben, bis der andere tot wäre. Aber genau das mochte Bramante an Giacomo – dass er nicht aufgeben, sondern sich treu bleiben würde. Nur dekadente, lendenschwache Idioten, geistige Strichjungen glaubten, dass man alles für den Frieden tun müsse. Der Krieg war der Vater aller Dinge, und nur wer bereit war zu kämpfen, würde den Frieden erleben! Deshalb würde er, Donato Bramante, bis zu seinem letzten Tage auf Erden kämpfen, er würde dafür kämpfen, dass sich über dieser kleinlichen und verschissenen Welt die Kuppel des Himmels erheben würde! In einer jähen Gefühlsaufwallung zog er die beiden jungen Architekten in seine kräftigen Arme und presste sie an seine Brust.

»Gebt nie auf zu kämpfen!«, brüllte er ihnen ins Ohr. »Wir sind die Gefährten der Liebe, deshalb kennen wir auch den Hass! Versteht ihr mich? Die Welt beruht auf dem Prinzip des Kampfes der Gegensätze. Post und Kontrapost, Stand- und Spielbein, die Spannung der Gegensätze. Nur wer die Spannung beherrscht, ist ein Architekt, weil Spannung das Grundprinzip der Baukunst ist. Was ist eine Kuppel?«

»Eine Wölbung?«

»Falsch! Reine und richtig berechnete Spannung! Deshalb ist die Kuppel der reinste und erhabenste Ausdruck der Baukunst. Alles ist in Spannung. Selbst die Oberfläche des ruhigen Wassers bedarf ihrer, denn ohne Spannung würde das Wasser einfallen. Aber wodurch entstehen Spannungen, was ist die Ursache?«