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Antonios Gesicht wirkte durchscheinend, so tief sann er über die Antwort nach. Plötzlich lächelte er, weil er glaubte, seinen Meister verstanden zu haben. »Durch die Kraft. Ich meine die Kräfte, die gegeneinander wirken.«

»Wirken ist zu wenig, mein Sohn. Das ergibt Gefälligkeitsarchitektur. Wahre Baukunst entsteht dort, wo die Kräfte, bis aufs Äußerste getrieben, gegeneinander anrennen.« Bramante zog einen Zettel hervor und las laut: »Betrachte durch mich den Kosmos, wie er vor deinen Augen liegt, und begreife genau seine Schönheit: Er ist ein unversehrter Körper und nichts wird je älter sein als er, und dennoch steht er in allem in der Blüte seiner Kraft, ist jung und blüht über und über. Sieh auch die liegenden sieben Welten, deren Ordnung in ewig gültiger Weise geregelt ist und die in ihrem unterschiedlichen Lauf den Äon ausmachen; alles … ist nun voller Licht geworden, das von oben eine Leuchtkraft bekommt von der Wirkkraft Gottes, des Erzeugers von allem Guten und aller Ordnung der sieben Welten.«

»Was bedeutet das, Meister?« Der spottlustige Baldassare war mit einem Mal vollkommen ernst geworden.

»Dass ihr niemals denken dürft, Häuser, Paläste oder Kirchen zu bauen. Wer einen Palazzo baut, baut eine Hundehütte, wer eine Kirche baut, baut eine Scheune. Das ist zu wenig. Welten müsst ihr bauen! Dann gelingen euch auch Häuser, Paläste und Kirchen.«

»Ich verstehe. Und Welten baut man mit Licht, mit Gottes Licht, dem sich die Baustoffe unterordnen«, sagte Baldassare nachdenklich. Bramante seufzte leise, weil der Gedanke nicht von seinem Schüler Antonio da Sangallo gekommen war.

»Häuft niemals Beton auf Beton, Steine auf Steine, sondern balanciert sie aus im Licht, schafft Welten!«, rief Bramante.

»Menschen leben, Tiere leben, Pflanzen leben, also sollen auch die Bauwerke leben, in denen sie sind«, sagte Baldassare langsam, und Antonio sah ihn voller Bewunderung an. Bramante aber war betrübt, weil er in diesem Augenblick erkannte, dass sein inzwischen geliebter Schüler nur über ein begrenztes Talent verfügte. Antonio würde ein sehr guter Architekt werden – er war fleißig und begabt. Die letzten Weihen jedoch, dachte Bramante, das, was den wirklichen Künstler vom begnadeten Handwerker trennte, würde er nie erreichen. Sei’s drum. Er musste die Zeremonie zu Ende führen.

»Wisst ihr, wann der Kampf der Gegensätze, der Krieg, der das Leben hervorbringt, endet?« Die beiden Novizen schüttelten den Kopf. »Im Tod. In der Anhäufung toten Gesteins sind wir tot, auch wenn wir unser Dasein Leben nennen würden wie die meisten Menschen auf der Welt, die längst tot sind, aber es nicht merken, weil sie immer schon tot waren und nie gelebt haben. Gebt niemals auf zu suchen, lasst euch auf keinen Frieden ein, kämpft, schickt kühn Kräfte gegeneinander, weil nur so die wahre Spannung entsteht, die das Leben ist. Denn glaubt mir, wie in der Architektur ist es in den belebten und unbelebten Körpern vorgegeben, und die stärkste Spannung, die wir erleben, ist die zwischen Geburt und Tod. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich wie die Oberfläche des Wassers das Leben aus, ständig bedroht, ständig in Bewegung und bis zum letzten unserer Erdentage in Balance. Das Gleichgewicht ist kein Ruhepunkt, sondern der Moment der äußersten Anspannung gleich starker Kräfte.«

Er gab ihnen auf, in seiner Abwesenheit eifrig Dante zu studieren, sich die Illustrationen Botticellis dazu anzusehen und Landinos Kommentare zurate zu ziehen. Dann nahm er ihnen den Schwur ab, dem Bund stets treu zu dienen und Stillschweigen über seine Existenz und seine Mitglieder zu wahren. Er ritzte ihre Haut über der Brust und umarmte sie, wie ihn einst Pico umarmt hatte. Dann tranken sie und aßen. Und sprachen über das Bauen.

Später am Abend standen Ascanio und Antonio, Lucrezia zwischen sich, vor Bramantes kleinem Palazzo. Aus der geöffneten Eingangstür drang Kerzenlicht und umgab die Gestalten mit einem warmen Schimmer. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel Bramante der Abschied schwer. Immer hatte er sich als Reisender empfunden, der sich nur unterwegs zu Hause fühlte, ein Nomade seiner Ruhmsucht, seines Schaffensdranges. Doch diese drei Menschen, die ihm nachwinkten, hatten dieses Gebäude in sein Heim und seine Heimat verwandelt. Sein Herz schlug im traurigen Takt der Pferdehufe. Hinter ihm ritt sein Diener, der einen Esel mit ihrem Gepäck an einem Seil mit sich führte.

Bei der vor dem Aufbruch des Papstes in der Sixtinischen Kapelle abgehaltenen Messe saß der Architekt weit hinten. Zwischen Julius II. und ihm beteten die Kardinäle und einige Bischöfe. Die Messe las Egidio da Viterbo, und Bramante hatte Mühe zu folgen. Sein Blick fiel auf das Fresko zu seiner Rechten. Es zeigte Christus, der Petrus die Schlüssel übergab. Im Hintergrund erhob sich ein Tempel über dem Grundriss eines griechischen Kreuzes, der von einer goldenen Kuppel gekrönt wurde. Sie wirkte wie eine Sonne vor dem lindblauen Himmel. Rechts und links verherrlichten zwei Triumphbögen Papst Sixtus IV. und den weisen König Salomo.

Doch Papst und König wurden gepriesen als Erbauer der Kirche! In diesem Moment begriff Bramante, dass dieses Bild vom Bauen sprach. In der Nähe von Petrus entdeckte er zwei Architekten, der eine ein Winkelmaß, der andere einen Zirkel in der Hand. Und dann vernahm er Egidios Stimme: »Und so heißt es bei Petrus: ›So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede, und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.‹ Darum heißt es in der Schrift: ›Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.‹ Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist er ›der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses‹; sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst ›nicht ein Volk‹ wart, nun aber ›Gottes Volk‹ seid und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.

Und Origenes sagt: Beide, der Tempel und der Leib Jesu, scheinen mir nach den Auslegungsmöglichkeiten jeweils ein Bild der Kirche zu sein. Sie ist ja aus lebendigen Steinen erbaut, zu einem geistigen Gebäude, zu einer heiligen Priesterschaft, gebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, und der Schlussstein ist Christus Jesus selbst.«

Unbewusst zuckte Bramante bei dem Wort Schlussstein zusammen, denn sein Blick fiel auf den Schlüssel, den Jesus Petrus übergab, den Schlüssel zur Kirche, den Schlüssel zum Himmelreich, denn beide Worte hatten offensichtlich den gleichen Ursprung: chiave, der Schlüssel, und chiave di volta, der Schlussstein.

Aber schon sprach Egidio weiter: »Streiten wir für diese lebendige Kirche, denn aus der ecclesia militans geht die ecclesia triumphans hervor. Ziehen wir also mit Christi Stellvertreter heute aus, um für die Kirche zu kämpfen, seien wir lebendige Steine, die sich zu einer neuen Kirche fügen!«

Aus lebendigen Steinen würde die Kirche errichtet. Kurz schaute Bramante zur Decke, die aus einem Himmel gemalter Sterne bestand, der einfach, ja fast primitiv wirkte im Vergleich zu den kunstvollen Wandfresken. Als er wieder nach vorn sah, traf sein Blick auf den des Kardinals Catalano. Auch er würde dank Egidio den Papst begleiten müssen und deshalb Bramantes Abwesenheit nicht für seine Zwecke nutzen können. Als er aus der Kapelle trat, dachte der Architekt, dass die Fresken an den Wänden ein Gegenstück an der Decke benötigten. Aber wer könnte es malen? Der junge Maler aus Urbino? Er würde sich seine Werke in Florenz anschauen müssen.