Выбрать главу

Vor dem Vatikanpalast saß die Streitschar auf, angeführt von dem zweiundsechzigjährigen Papst höchstpersönlich. Hinter ihm ritten neun Kardinäle und fünfhundert schwer bewaffnete Reiter, dahinter folgte der Tross. Der Zug setzte sich in Bewegung. An der Porta Flaminia verabschiedete sich der Heilige Vater vom römischen Volk, das den Zug bis hierher begleitet hatte, und segnete es. Dann verließ der Heerbann die Stadt. Nicht wenige sollten es später als anstößig empfinden, dass der Stellvertreter Christi persönlich die Krieger angeführt hatte, doch Julius II. interessierte das herzlich wenig. Kühn und ausdauernd ritt er in die Dunkelheit.

41

Florenz, Anno Domini 1506, im November

Er hieb so heftig mit dem Eisen auf den Stein ein, dass selbst die Luft zu krümeln begann. Michelangelo war unzufrieden mit sich und der Welt. Eigentlich hätte er an den Figuren der Gefangenen für das päpstliche Grabmal arbeiten sollen, stattdessen begann er, die zwölf Apostel für den Florentiner Dom zu hauen. Wie aus dem Dunkel der Geschichte schien sich seine Figur aus dem Stein zu drehen. Der Schmerz des Matthäus, der vom Gesehenen Zeugnis ablegte, übertrug sich auf die gequälte Bewegung des Körpers. Christus litt am Kreuz und Matthäus unter der Augenzeugenschaft. Weil sich Michelangelo zu dieser Arbeit zwang, kam sie ihm fremd vor, falsch, nicht das, was er eigentlich tun sollte. Und so konnte sich der Rausch des Schaffens nicht einstellen, nur seine eiserne Disziplin hielt ihn am Marmor. Da er aber dem Papst trotzte, durfte er es sich nicht gleichzeitig mit seinen Florentinern Auftraggebern verderben. Ungewöhnlich genug, hatte der Pontifex durch handschriftliche Breven und die Vermittlung der Florentiner Stadtregierung versucht, den aufmüpfigen Bildhauer zur Rückkehr zu bewegen. Vergebung und die eigene Sicherheit wurden ihm garantiert. Dennoch hielt ihn eine letzte Furcht zurück.

Schließlich hatte er den Papst herausgefordert. Er konnte und wollte nicht glauben, dass es damit sein Bewenden haben würde. Zudem wusste er nicht, was sein Rivale Bramante gegen ihn zu unternehmen plante. Plötzlich spürte er, dass er nicht mehr allein in seiner Werkstatt war. Wer wagte es, ihn zu stören?, dachte er mürrisch. Doch seine angespannte Stimmung verflog in dem Augenblick, als er in dem Besucher seinen alten Freund Giuliano da Sangallo erkannte. Die beiden Männer umarmten einander herzlich. Dann berichtete Sangallo, dass der Papst Perugia befreit und Bologna eingenommen habe. Nun residiere er in der zweitgrößten Stadt des Kirchenstaates. Und Julius II. befehle Michelangelo, sich dort einzufinden. Der Bildhauer verzog verdrossen das Gesicht.

»Angiolo, komm mit!«, beschwor Sangallo den Freund. »Julius ist dir weiter entgegengekommen, als du erwarten durftest. Er hegt keinen Argwohn gegen dich. Der Heilige Vater will nur, dass du deine Arbeit in Rom wiederaufnimmst. Wenn du ihm diesmal trotzt, hast du es mit ihm für immer verdorben. Trau mir! Wenn er wollte, könnte er deiner Freiheit oder deinem Leben auch in Florenz ein Ende setzen. Was riskierst du?«

»Gut, ich komme mit, aber nur mit dem Riemen um den Hals«, knurrte der Bildhauer.

Bologna, Anno Domini 1506

Zwei Tage darauf traf Michelangelo in Bologna ein. Es war kalt, und Regen peitschte den Straßenkot hoch. Den ganzen Tag hatte die Sonne nicht geschienen. Der November machte seinem tristen Ruf alle Ehre. Bevor er sich beim Papst melden lassen wollte, zog es den Bildhauer zur Kirche von San Petronio, der Hauptkirche der Stadt, um ein Gebet an den Schutzheiligen der Basilika und der Stadt zu richten. Er brauchte ein wenig Fürsprache, denn er fürchtete sich vor der Begegnung mit dem mächtigen Papst, den er so schwer gekränkt hatte. In der Ferne war es leicht, Mut zu beweisen. Michelangelo wusste nur zu gut, dass er eine Grenze überschritten hatte.

Nach dem Willen der Bologneser hatte San Petronio noch größer gebaut werden sollen als Sankt Peter, doch der Papst als Oberherr der Stadt hatte das der Signoria, dem Stadtrat, damals verboten. Dennoch war San Petronio ein Gotteshaus von beeindruckender Größe. Durch die bunten Glasfenster brach trotz der dunklen Novemberstimmung vielfarbiges, verspieltes Licht, als ob die Farben eine eigene Leuchtkraft besaßen, die das spärliche Tageslicht verstärkten. In dem hohen gotischen Kirchenraum empfand Michelangelo die Nichtigkeit des Menschen vor Gott mit aller Macht. Anmutig strebten die rot gehaltenen Rippen des Mauerwerks, die sich schwungvoll von den weißen Wänden abstießen, in den Himmel. Der Bildhauer fühlte den Sog der ungeheuren Bewegung nach oben und hätte sich ihm gern hingegeben, doch blieb sein Blick an dem von Giovanni da Modena freskierten Jüngsten Gericht hängen. Und das Leid der Verdammten fand Widerhall in seiner Seele.

Michelangelo stand fassungslos vor dem Werk eines großen, eher unbekannten Malers. Wer mochte dieser Giovanni wohl gewesen sein, was mochte er gesehen haben, wenn ihm eine solche Darstellung der menschlichen Not gelang? Er kannte nur Darstellungen des Jüngsten Gerichts, in denen es um die göttliche Gerechtigkeit ging. Der unbekannte Maler aber interessierte sich nicht für das Recht, sondern für das menschliche Leid. Und dieses Jüngste Gericht war deshalb grausamer als alle anderen, die Michelangelo je gesehen hatte, weil die Pein so grundlos war.

Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter, und er wandte sich um. Vor ihm standen ein Hauptmann und zwei Soldaten, weiß und gelb gewandet. »Michelangelo Buonarroti?«

»Ja.«

»Ich soll Euch sofort zu seiner Heiligkeit führen.«

Papst Julius II. saß an dem Tisch im großen Saal im Palazzo der Signoria von Bologna und speiste zu Mittag. Er löste gerade das Fleisch von einem Hühnerbein, als der Hauptmann Michelangelo hereinführte. Der Pontifex schaute ihn an, ohne dass sein Gesicht eine Regung verriet. Nur seine Augen wirkten lauernd. Er legte das Keulchen ab und wischte sich die Finger an einem Tuch ab.

»Du hast also so lange gewartet, bis Wir selbst gekommen sind, um dich aufzusuchen!« Da Bologna sehr viel näher an Florenz lag als an Rom, hatte diese Feststellung eine gewisse Berechtigung.

Aber der Papst war ja nicht seinetwegen hierher gezogen, dachte Michelangelo, sondern wegen der aufmüpfigen Geschlechter der Baglioni und Bentivoglio. Und vielleicht auch wegen ihm, denn wie diese Stadttyrannen hatte auch er sich rebellisch dem Papst gegenüber verhalten. Ihm war die unterdrückte Wut in Julius’ Stimme nicht entgangen, und er wusste, dass äußerste Vorsicht angebracht war. Ein falsches Wort, und der Jähzorn des Papstes konnte ihn trotz aller Zusicherungen und Garantien vernichten. So wenig, wie es mit vollständiger Unterwerfung getan war, so wenig half Trotz.

»Heiliger Vater, verzeiht einem sündigen Menschen, wie ich einer bin«, sagte Michelangelo, während er langsam und stolz vor dem Stellvertreter Christi niederkniete. »Glaubt mir, ich wollte Euch weder kränken noch beleidigen. Ich bin schweren Herzens gegangen. Aber was blieb mir übrig, nachdem ich beleidigt, verhöhnt und verjagt worden war?« Das war mehr als kühn. In der Geste demutsvoll, trotzte er mit Worten, denn er gab Julius II. die Schuld für seine Flucht nach Florenz.

Das Kirchenoberhaupt schaute finster vor sich hin. Zorn verzerrte seine energischen Züge, sein Gesicht lief rot an, ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. In diesem Moment ergriff mit schmeichelnder Stimme ein Bischof, den Michelangelo nicht kannte, das Wort.