Antonio da Sangallo begriff, dass er schnell handeln musste. Bisher hatte er eine von Bramante geliehene Autorität besessen. Jetzt musste er sich selbst Respekt verschaffen. »Du bist doch nicht der einzige junge Meister in der Stadt?«
»Nein, Paolo, Bindo, Clemente und Michele kenne ich gut. Sie arbeiten an dem Palazzo von Agostino Chigi an der Via Giulia und am Korridor von Belvedere.«
Der Architekt beauftragte Maffeo, so viele Männer anzuwerben, wie er nur konnte. Um dieses schwierige Unterfangen zu erleichtern, versprach er, die Löhnung zu verdoppeln. Ob ihn Bramante wegen der zusätzlichen Ausgaben zur Rechenschaft ziehen würde, war ihm im Moment gleichgültig. Jetzt galt es, in einem Kampf zu siegen, der über seine Zukunft als Baumeister in Rom entschied. Er hatte einen Krieg vom Zaun gebrochen, den er unter allen Umständen gewinnen wollte.
Nachdem er mit Maffeo alle Einzelheiten besprochen hatte, eilte er nach Hause. Er war erleichtert, als er Lucrezia und Ascanio dort antraf. Während das Mädchen stickte, las Ascanio in einem Buch. Ihre Blicke wandten sich ihm sofort zu. Antonio hielt sich nicht bei der Vorrede auf, sondern kam gleich zur Sache.
»Kannst du ein paar zuverlässige Kämpfer auftreiben, Ascanio?«
»Nichts leichter als das!«
»Gut. Der Bauunternehmer Maffeo Maffei braucht einen Leibwächter, auch die anderen Meister, die ich zu gewinnen hoffe.«
Ascanio wollte schon davoneilen, doch der Architekt hielt ihn noch zurück. »Vorher begleite Lucrezia bitte zu ihrer Mutter.«
»Was möchtest du, das ich ihr sage?«, fragte das Mädchen.
»Deine Mutter soll Agostino Chigi darum bitten, dass er den Maurermeister Paolo mit seinen Leuten für ein paar Tage oder Wochen am Petersdom aushelfen lässt und keinen anderen Meister einstellt. Ich rede mit Baldassare Peruzzi, dem verantwortlichen Architekten.«
Lucrezia willigte ein, und gemeinsam verließen sie das Haus. Während Ascanio und Lucrezia zum Borgo gingen, um Imperia aufzusuchen, richtete Antonio da Sangallo seine Schritte zur Via Giulia. Wolken zogen herauf. Es sah so aus, als würde es Regen geben, was für den November nicht ungewöhnlich war. Schlechtes Wetter würde ihm sogar helfen. Wie in jedem Jahr waren die Maurergesellen und Arbeiter gezwungen, noch vor dem Einbruch des Winters, bevor der einsetzende Frost die Arbeiten zum Erliegen brachten, so viel Geld zu verdienen, wie sie nur konnten. Deshalb hielten sie den Meistern nicht ewig die Treue – diese würden ihre Familien nicht durch den Winter bringen. Die Aussicht auf eine doppelte Löhnung würde das Ihrige tun.
Antonio fand den Maurermeister Paolo vor einem kleinen Haus, das seine Leute wegrissen, weil es der Verbreiterung der Straße im Wege stand, und rief ihn beim Namen.
»Messèr Antonio?«, begrüßte ihn Paolo erstaunt.
»Ihr werdet morgen mit Euren Leuten am Petersdom arbeiten!«
Paolo verzog das Gesicht. »Und mich dafür mit Baggio anlegen? Nein!«
»Ich zahle für jeden den doppelten Lohn«, sagte Antonio so laut, dass alle Umstehenden es hören konnten. Leiser und nur für den Meister hörbar fügte er hinzu: »Du bekommst einen Leibwächter! Dir wird nichts passieren.«
Paolo runzelte unschlüssig die Stirn und überlegte.
»Entscheide dich!«, sagte Antonio. »Aber bedenke, dass ich keine Gnade kennen werde, wenn du mich im Stich lässt!« Ohne ein weiteres Wort ließ er den Maurermeister stehen und machte sich wieder auf den Weg. Doch auch auf den Baustellen beim Vatikan und dem Belvedere konnte er die anderen aufstrebenden Bauunternehmer nicht überzeugen. Sie blieben unentschlossen. Entmutigt kehrte Antonio nach Hause zurück.
Beim Abendessen brachte Lucrezia die frohe Kunde, dass der Bankier einverstanden war. Auf Antonios Bericht reagierte Ascanio mit Stirnrunzeln. Er rang sich zu einem Entschluss durch.
»Wir müssen eine Botschaft schicken. Verlasst das Haus nicht, und verbarrikadiert die Tür. Lasst niemanden herein, und bewaffnet die Diener«, sagte er und erhob sich.
»Wo willst du hin?«, fragte Lucrezia. Der Architekt ahnte es.
»Das willst du nicht wissen«, beschied sie Ascanio kurz und verließ das Zimmer.
Spät in der Nacht hörte Antonio, der nicht schlafen konnte, wie der Leibwächter zurückkehrte.
Am anderen Morgen verzichtete er auf die Andacht und das Frühstück. Er begab sich sogleich zur Baustelle, die noch im Dunkeln lag. Antonio atmete den feuchten Duft und die Kälte ein und zog den Mantel fester um sich. Sobald die Sonne aufgegangen war, würde sich der Kampf entscheiden. Durch einen Riss in der Wolkenwand drang vom Osten her, vom Tiber, von Bramantes Haus ein heller gelber Streifen Sonnenlicht. Antonio schien es, als würde das Licht wie ein Hebel den Spalt vergrößern. Und mit dem Licht – er rieb sich die Augen und konnte es kaum glauben – trafen von Osten her die jungen Maurermeister ein. Paolo und Bindo, Clemente und Michele und schließlich, in Begleitung des Fechters Eugenio, Maffeo Maffei. Ihnen folgten die Gesellen, Arbeiter und Lehrlinge. Wie eine Armee. Hunderte von arbeitswilligen Männern. Das Gefühl tiefer Erleichterung durchströmte Antonio, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit, als ihn die Meister umringten.
»Der Bann ist gebrochen, Messèr Antonio. Darf ich die Arbeit am Südwestpfeiler fortsetzen?«, fragte Maffeo mit einer Verbeugung.
»Ja, Maffeo. Paolo und Bindo, geht mit euren Leuten zum Westchor, und du, Clemente, und du, Michele, ihr macht am Nordwestpfeiler weiter. An die Arbeit Männer, es gibt viel zu tun! Der Heilige Vater richtet den Kirchenstaat wieder auf. Da wollen wir in unserem Tun doch nicht nachstehen. Zeigen wir ihm bei seiner Rückkehr, dass auch wir unseren Beitrag geleistet haben!«
Zufrieden und stolz beobachtete Antonio, wie sich die Arbeiter auf die verschiedenen Plätze der Baustelle verteilten und ihre Arbeit wiederaufnahmen. Er glaubte zu träumen, denn er hatte das Gefühl, dass ihm der Sieg wie ein reifer Apfel in den Schoß gefallen war. Mit einem triumphierenden Lächeln nahm er wahr, dass nun auch die abtrünnigen Maurermeister in demütiger Körperhaltung herangeschlichen kamen. Ein Grauhaariger mit stahlblauen Augen und einem Gesicht wie brauner Marmor räusperte sich und begann zu sprechen, ungelenk, nach Worten suchend.
»Verzeiht, Messèr. Wir möchten gern unsere Arbeit wiederaufnehmen.«
Antonio ließ seine Blicke schweifen. Er vermisste jemanden. »Wo ist Baggio?«
Die Bauunternehmer wechselten überraschte Blicke. »Macht ihr Witze, Messèr Antonio? Baggio ist gestern Abend im Tiber ertrunken«, antwortete der Grauhaarige vorwurfsvoll.
»Man geht auch nicht schwimmen, wenn man nur einen Arm hat«, ließ ein anderer verlauten.
Ascanio! Wie dankbar war er ihm! Die Botschaft, die er geschickt hatte, war angekommen. Der Leibwächter hatte der Hydra den Kopf abgeschlagen, nun fiel der Körper des Aufruhrs leblos in sich zusammen. Aber auch die Abtrünnigen mussten büßen, dachte Antonio, sie mussten so gründlich gedemütigt und bestraft werden, dass es sich herumsprechen und niemals jemand wieder wagen würde, sich ihm auf einer Baustelle zu widersetzen.
»Die Ehre, an Sankt Peter zu arbeiten, habt ihr durch euren Hochmut verspielt. Ihr dürft aber an der Via Giulia, am Vatikanpalast und am Belvedere arbeiten. Für die Hälfte des Geldes!«
Eisige Stille folgte auf Antonios Worte. Die Maurer sahen ihn unverwandt an, und er erwiderte ihren Blick ohne eine Regung. Dann hob er, einer plötzlichen Eingebung folgend, langsam seine rechte Hand mit dem goldenen Ring und streckte sie nach vorn. Dabei senkte er den Blick zu Boden und wartete. Die Männer begriffen sofort, dass er ihre Unterwerfung forderte, weil er künftig der Patron sein würde. Der Grauhaarige kniete nieder und küsste die Hand des Baumeisters.