Keinen Monat später erlebte Antonio die Grundsteinlegung für die beiden östlichen Vierungspfeiler. Am darauffolgenden Tag beauftragte er die Bauunternehmer Clemente und Maffeo mit dem Abriss der Wände des östlichen Querhauses und des westlichen Langhausjoches. Bramante hatte Anweisung gegeben, dass die Arbeiten schnell und schonungslos vonstattengehen sollten. Er verzichtete von vornherein und ohne darüber nachzudenken, darauf, die großen Säulen, die Konstantin zum Bau der Basilika vor über zwölfhundert Jahren vom Mausoleum des Hadrian genommen hatte, wiederzuverwenden. Sie mochten brechen oder zerschlagen werden, um anschließend als Schutt für das Fundament oder den Guss benutzt zu werden. Gewaltsam, wie ein siegreicher Imperator, wollte er Platz schaffen für sein Bauwerk und den ganzen alten Plunder hinwegfegen.
An einem späten Vormittag besuchte Bramante die Baustelle, als auch der Kardinal Catalano dort erschien. Die Maurermeister zögerten. »Nur zu!«, rief Antonio da Sangallo, und wohl hundert Männer begannen, an den langen Seilen zu ziehen, die um die kostbaren Säulen geschlungen worden waren, die Papst Nikolaus V. in den Chor von Sankt Peter hatte überführen lassen. Sie erhoben sich über zweihundert Fuß hoch bis in das Gebälk. Zuvor hatte man die Säulen allerdings miniert.
»Nein!«, schrie der Kardinal erschrocken auf, als ihm bewusst wurde, was im nächsten Moment geschehen würde. »Sofort aufhören!«
»Weitermachen!«, befahl Bramante ungerührt. Schließlich war das seine Baustelle.
Unter ohrenbetäubendem Lärm stürzte der erste Pfeiler und zerbrach in fünf Teile. Dem Kardinal rannen die Tränen über die Wangen. Es war für ihn, als ob Gott stürbe oder eine tausendjährige Eiche fiele. Der Sturz der Säulen, auf denen für ihn das Himmelreich ruhte, erschütterte die Erde. Alle Männer auf der Baustelle waren ergriffen, doch Bramante ließ keine Besinnung zu, sondern trieb die Arbeiter an. »Weiter! Weiter! Weiter!«, brüllte er.
Wieder zogen die Bauleute, und die zweite Säule stürzte unter großem Getöse. Das Gebälk gab nach, und ein Teil des Daches fiel hinterher. Sonnenlicht drang durch das Loch in der Decke und durch den Staub, der sich nur sehr langsam legte. Ein großer Stein brach aus dem sich neigenden Obergaden aus, schlug auf den Altar und zertrümmerte ihn.
Giacomo stand mit weit aufgerissenen Augen wie versteinert da. Schließlich löste er sich aus seiner Erstarrung und kniete neben der zerborstenen Memoria des Apostelfürsten nieder. Zärtlich strich er über die Bruchstücke, wühlte mit beiden Händen im Staub und fuhr sich dann langsam über das Gesicht. Die grauschwarze Schicht auf Stirn, Wangen, Nase und Kinn verlieh ihm den Ausdruck von Trauer, doch aus seinen Augen sprach der blanke Hass. Ohne ein Wort verließ er die Baustelle, das Herz gefühllos wie Eis.
Bramante hatte voller Befriedigung zugesehen, wie der Kardinal litt. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Noch durfte er nicht die ganze alte Basilika abreißen, aber was er niederlegte an Mauerwerk und Säulen, tat er so, dass es endgültig und unumkehrbar war. Dabei hatte er die endgültige Gestalt des neuen Doms noch keineswegs klar vor Augen. Bisher dachte er nur an den Zentralbau, dessen Herzstück die Vierung darstellte. Darüber, wie es dann weitergehen sollte, ob sich der Zentralbau zum Langhaus öffnen sollte, hatte er noch keine Entscheidung getroffen. Dringende Anfragen der Dombauhütte wies er mit dem Hinweis auf eine dreischiffige Basilika ab, die er im Gegensatz zu der jetzt noch bestehenden fünfschiffigen Anlage zu errichten gedächte. Zu gegebener Zeit würde er die konkreten Entwürfe vorlegen. Bramante baute, um sich Baufreiheit zu verschaffen, er zerstörte, um Neues zu errichten. Mit der riesigen Vierung schuf er Fakten, an denen niemand mehr vorbeikam. Nur das zählte.
Julius II. wünschte sich den Westchor auf den Mauern der von Nikolaus V. begonnenen Tribuna. Also ließ Bramante sie aufmauern, wusste aber zugleich, dass sie dem räumlichen Druck seiner mächtigen Vierungspfeiler nach Westen nicht würden standhalten können, so wie die Basilika es nach Osten auch nicht vermocht hatte. Beide, Chor und Basilika, würden eines Tages fallen müssen, weil die Kuppelvierung alles, was kleiner gedacht war als sie, hinwegfegen würde. Es war, als zeuge Bramante einen Riesen in der Retorte, einen Golem, der irgendwann ausbrechen musste, wenn er groß genug sein würde. Antonio bewunderte den alten Architekten für seinen Mut, für seine Unbekümmertheit und auch für seine Brutalität.
Jeden Morgen auf dem Weg zur Andacht berichtete Antonio Lucrezia begeistert von den Fortschritten auf der gigantischen Baustelle, auf der inzwischen zweieinhalbtausend Menschen tätig waren. Und da Bramante sich nicht allzu oft sehen ließ, war es eigentlich er, Antonio da Sangallo, der den Bau leitete, was ihn mit Stolz und mit Demut erfüllte. Lucrezia nahm regen Anteil, fragte nach Details und interessierte sich für die verwickelten Fragen der Statik. Einmal hielt er mitten in der Erklärung inne und staunte über ihr konzentriertes Gesicht.
»Was ist?«, fragte sie verunsichert.
»Nichts. Ich dachte nur, dass du eine großartige Frau für einen Architekten abgeben würdest.«
»Warum nicht einen großartigen Architekten?« Antonio verschluckte sich, und Lucrezia lachte über sein verdutztes Gesicht. »Ich weiß, dass ich mich als Frau auf dem Bau nicht gegen die Maurer durchsetzen könnte. Aber im Ernst, lehre mich alles, was du über das Bauen weißt.«
»Würdest du denn dann noch meine Frau werden wollen?«, fragte er mit bangem Blick.
»Ich will es ja gerade wissen, weil ich deine Frau werden will.« Sprach’s und küsste ihn auf die Stirn.
Es tat Bramante gut, Imperias Arm auf dem seinen zu spüren, auch wenn der Anlass ein trauriger war. Sie trug schlichtes Schwarz, ein dunkler Schleier verhüllte ihr Gesicht. Niemand sollte in der trauernden Frau Imperia, eine, vielleicht die größte Kurtisane Roms, vermuten. Mochten die anderen, die zur Beerdigung von Margarita Saraceni Chigi erschienen waren, den Anlass nutzen, um zu repräsentieren – Imperia wollte nur möglichst unerkannt der Ehefrau ihres Geliebten das letzte Geleit geben.
In den letzten Stunden hatten Agostino und sie abwechselnd der Sterbenden beigestanden, die große Qualen litt. Selbst der Papst war an Margaritas Krankenbett erschienen und hatte ihr den letzten Segen erteilt, so wie er gerade die Totenmesse gelesen hatte, ernst und eindrucksvoll. Er hatte sie als große Christin und als tugendhafte Frau gepriesen.
Nun schritt der unüberschaubar lange Trauerzug zu der Gruft, die Agostino Chigi für seine Frau auf dem Campo Santo hatte errichten lassen. Nachdem der Leichnam in den Sarkophag gebettet worden war und der Papst ihn gesegnet hatte, schritt der Zug all derer, die aus den verschiedensten Gründen dem reichen und dadurch mächtigen Mann ihre Anteilnahme bekunden wollten, an dem trauernden Witwer vorüber.
Es würde noch eine Weile dauern, bis Bramante und Imperia an der Reihe waren. Er spürte, wie erschüttert die geliebte Frau war.
»Was hätte ich dafür gegeben, wenn Margarita Saraceni nicht nur die Grundsteinlegung für Neu Sankt Peter, sondern auch die Vollendung erlebt hätte«, sagte Imperia leise. Bramante drückte ihre Hand. Kein Außenstehender konnte das besondere Verhältnis verstehen, dass Ehefrau und Geliebte verbunden hatte. Es war vollkommen unüblich, aber dennoch wirklich, weil Margarita Saraceni eine außergewöhnliche Frau gewesen war, die über ihren eigenen Tod hinaus Vorkehrungen für das Wohlergehen ihres Mannes getroffen hatte. Imperia wusste das ebenso wie Bramante.
»Seien wir realistisch, die Fertigstellung des neuen Domes werden wir wohl alle nicht mehr erleben«, sagte er mit einem schmerzlichen Lächeln, worauf ihm Imperia einen erschrockenen Blick zuwarf. »Es sei denn, wir werden so alt wie Methusalem.«
»Ich möchte nicht alt werden, ich möchte leben!«, gab Imperia zurück.
»Wirst du ihn heiraten?«
Imperia zog ihren Arm zurück. Sie wollte schneller gehen, durfte aber auch nicht aus der Reihe tanzen. »Ich werde zu ihm ziehen, Donato, in ein paar Wochen.«