»Nimm die Hände weg von meiner Tochter!«, donnerte Imperias Stimme wie die Trompeten von Jericho vom Eingang her. Noch nie hatte Lucrezia diese Urgewalt in der Stimme ihrer Mutter vernommen. Erschrocken riss sie die Augen auf und wich zurück. Zum ersten Mal sah sie eine Regung in den Augen des Fremden. Ärger und Wut. Ihr wurde übel. Der Ausdruck von Gefühlen nahm dem Mann seinen ganzen Zauber, er wirkte unbedeutend, schmutzig, gerissen und vor allem uninteressant. Das Mädchen verstand nicht, wie sie auf diesen dreisten Kerl hereinfallen konnte.
»Wer bist du?«, fragte Imperia zornig.
»Der Maler Sodoma!«
»Ein passender Name für einen wie dich. Pack dich, ich will dich hier nie wieder sehen!«
Sodoma grinste frech. »Rom liebt Komödien. Die Hurenmutter als Tugendwächterin!« Er hatte kaum ausgesprochen, als ihn auch schon Imperias Faust traf, die mit unvermuteter Kraft zugeschlagen hatte. Sodoma taumelte, dann spuckte er Blut und einen Zahn aus. Er griff nach einem Farbeimer, setzte ihn aber unter dem harten Blick Imperias wieder ab. »Und jetzt verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Augenscheinlich widerstrebte es dem Maler, vor der Kurtisane klein beizugeben, doch er rang sich schließlich mit dem letzten Rest Vernunft, den er in sich fand, dazu durch zu gehen.
Imperia wandte sich an Peruzzi: »Lasst mich raten. Er stammt aus Siena wie Agostino und Ihr.«
Peruzzi nickte. »Er ist ein guter Maler, Madonna. Seht Euch das Bild an.«
»Und ein Schwein«, sagte Imperia und sah ihre Tochter an, die ihre Arme um sich geschlungen hatte, als ob sie friere. Sie ging zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr. »Wenn mich Agostino erst geheiratet hat, werden all diese Beleidigungen aufhören. Dann werden wir eine ehrbare Familie sein. Niemand wird es dann mehr wagen, mir solche Sachen zu sagen und dir gegenüber so unverschämt aufzutreten!« Sie nahm Lucrezia in die Arme und drückte sie fest an sich. »Aber ich glaube, dass wir reden müssen.«
»Worüber?«
»Über Männer und Frauen. So naiv darf nicht einmal die Tochter einer Kurtisane sein«, scherzte sie grimmig.
Widerwillig war Bramante seinem Gehilfen zur Probegrabung gefolgt. Nun starrte er in das Loch in der Nähe des Nordwestpfeilers und erblickte, was er erwartet hatte. Sie hatten es mehrere Fuß tief in den Boden getrieben. Maffeo Maffei stand in der Grube und zeigte auf die Schichten. Dass der Boden hier abschüssig war, hatten sie gewusst, aber die Schichtung wies auf lockeres Gestein und Sand hin.
»Eigentlich ist das kein Baugrund«, gab Maffeo zu bedenken. Antonio schlug vor, die Fundamente zu verstärken. Bramante überraschte das Ergebnis nicht, doch er wollte keine Zeit verlieren, sich nicht mit Nachbesserungen aufhalten, die, sah man vom Geld ab, zudem gut und gern ein ganzes Jahr an Verzögerung bringen konnten. Seine Gichtanfälle häuften sich, manchmal erwachte er in der Nacht und konnte nicht mehr einschlafen, gepeinigt vom Herzrasen. Nein, er hatte keine Zeit zu verlieren! Er musste den Bau vorantreiben. Nachbessern sollten andere, später. Die Pfeiler schienen ihm nicht akut bedroht zu sein.
»Haltet euch nicht mit Nebensächlichkeiten auf! Ich brauche jeden Mann auf der Baustelle«, verkündete er entschlossen.
Antonio kam nicht mehr dazu, etwas einzuwenden, denn ein alter Maurer kam mit lautem Rufen über den Bauplatz gerannt. In seiner Aufregung sprang er wie ein Vogel. Maffeo kletterte rasch aus seiner Grube.
»Es ist ein Junge, ein gesunder Junge!«, schrie der Alte hustend, aber mit leuchtenden Augen. Er konnte selbst kaum fassen, was er da zu verkünden hatte. »Ein Sohn, mein lieber Sohn.« Der freche Maffeo bekam kein einziges Wort heraus. Verschämt wischte er sich die Augen. Schmutz blieb an der feuchten Wange haften.
»Wie wird dein Erstgeborener heißen?«, fragte Antonio.
»Arnoldo, nach seinem Großvater«, stammelte Maffeo und umarmte den Alten. Bramante legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Geh nach Hause zu deiner Frau und deinem Sohn, mein Freund. Deine Vorarbeiter werden auch ohne dich die Arbeiten vorantreiben können. Heute feiere, aber morgen sei wieder hier.«
»Messèr Donato und Messèr Antonio, darf ich euch um etwas bitten?«, fragte Maffeo.
»Nur heraus mit der Sprache!«, ermutigte ihn der Architekt.
»Werdet ihr für meinen Sohn Pate stehen?« Feierlich und ein wenig scheu blickte Maffeo die beiden Baumeister an.
»Ja, mein Freund«, antwortete Bramante für beide. Er fühlte sich ein wenig stolz, dass Maffeo ihn gefragt hatte, aber er dachte auch wehmütig, dass an ihn selbst dereinst Bauwerke und keine Menschen erinnern würden. Sah man von Lucrezia ab, ja, sah man von Lucrezia ab.
Donato Bramante hatte dafür gesorgt, dass die Taufe des Sohnes von Maffeo in der neuen Kirche Santa Maria della Pace stattfand, weil deren Kreuzgang seine erste Arbeit in Rom gewesen war. Antonio hielt den nackten Säugling, der in eine Decke gehüllt war, über das Taufbecken. Neben ihm stand Bramante, vor ihnen der Priester. Angst und Stolz erfüllten Antonio, Angst, dass er diesen kleinen, zerbrechlichen Menschen fallen lassen oder zu derb anfassen konnte, und Stolz, weil er Pate eines Menschen war, der nun in Christo seinen Lebensweg beginnen sollte. Er blickte in das kleine Gesicht, das sich zu einem Weinen verzog.
»Arnoldo di Maffeo, widersagst du dem Satan?«, fragte der Priester, und Bramante antwortete für den Täufling: »Ich widersage!«
»Arnoldo di Maffeo, widersagst du all seiner Bosheit?«
»Ich widersage«, murmelte Antonio befangen.
»Arnoldo di Maffeo, widersagst du all seinen Verlockungen?«
»Ich widersage!«, erwiderte Bramante.
Der Priester sprach ein Gebet, dann fragte er erneut: »Arnoldo di Maffeo, glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater?«
»Ich glaube.« Auf Antonios Bekenntnis im Namen des Kindes in seinen Armen taufte der Priester das erste Mal.
»Arnoldo di Maffeo, glaubst du an Christus Jesus, den Sohn Gottes, der geboren ist …«
Zur gleichen Zeit, als der kleine Arnoldo di Maffeo im Namen Gottes die Taufe erhielt, kniete der Papst verzweifelt am Bett eines jüngeren Mannes. Er schaute zu dem Arzt Bonet de Lates auf. »Gibt es denn keine Rettung mehr?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das Fieber verbrennt ihn.«
»Aber woher kommt das Fieber?«
»Das ist es ja gerade! Ich weiß es nicht.« Man sah es dem Juden an, dass es ihn traurig stimmte, mit seiner Weisheit am Ende zu sein.
»Gift?«, fragte der Papst.
»Das kann man nie ausschließen. Aber ich halte es nicht für wahrscheinlich. Eher eine Infektion, die sich entzündet hat. Wir können den Brandherd nicht löschen, weil wir nicht wissen, wo er sitzt.«
Julius II. vernahm neben sich ein Schluchzen und sah in ein großes, rundes Gesicht mit blauen Augen, die voller Tränen standen. Die Trauer war echt, nicht gespielt. Die beiden waren in der Tat unzertrennliche Freunde, Galeotto della Rovere, der im Sterben lag, und der Kardinal Giovanni di Medici, Liebhaber der Kunst und der Literatur.
Der Sterbende regte sich, kaum wahrnehmbar bewegten sich seine Lippen: »Ach, Onkel …«, hauchte er. Dann versiegte sein Atem.
Julius konnte sich nicht erinnern, wann er je einen so übermächtigen Schmerz gefühlt hatte. Galeotto war sein Neffe gewesen, der Sohn seiner Schwester. Wie einen eigenen Sohn hatte er ihn geliebt, ihn ausbilden lassen, seine Karriere gefördert, ihn schließlich zum Kardinal kreiert. Galeotto hätte sein Werk vollenden, das neue Jerusalem in Rom errichten sollen als Metropole des heiligen Reiches in Christo. Und nun hatte ihm Gott diese Hoffnung genommen. Was war denn so falsch daran gewesen, dass er ihn verherrlichen wollte? Wofür strafte ihn Gott so hart? Julius war, als bräche eine Welt in ihm zusammen. Das durfte er nicht zulassen. Wollte ihm Gott zu verstehen geben, dass er nicht ruhen, nicht rasten durfte, bis er sein Ziel erreicht hatte, dass er sich nicht auf andere verlassen durfte, sondern nur auf sich selbst?