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Würde er scheitern, wie Bramante es vorausgesagt hatte und erwartete? Ein Blick auf den mitleiderregenden Zustand der Arbeit ließ nur eine Antwort zu. Doch er wollte und konnte nicht aufgeben und seine Niederlage eingestehen. Er kniete vor dem Altar nieder und versank in ein langes, inbrünstiges Gebet. Der Morgen brach schon zaghaft durch die hohen Fenster im Obergaden, als er sich mit steifen Gliedern wieder erhob und begann, in einer wilden Entschlossenheit den Putz von der Decke zu schlagen. Offenbar taugte die Florentiner Mischung für den Putz nicht, überlegte er, als er wieder ein wenig ruhiger geworden war; die Puzzolanerde in Rom besaß anscheinend andere Eigenschaften.

In den nächsten Tagen erkundigte er sich bei Giuliano da Sangallo, der wieder in der Stadt weilte, fragte bei Malern und Bauleuten nach, bis er die richtige Mischung für den feuchten Putz gefunden hatte, auf den er die Grundierung und die Bilder zu bringen gedachte. Bis auf zwei Gehilfen, die peinlich genau nach seinen Angaben die Farben anrührten, durfte niemand mehr die Kapelle betreten.

Auf dem Rücken liegend, den Pinsel in der nach oben gestreckten Hand über dem Kopf führend, malte und malte Michelangelo, während ihm die Farben und der Kalk ins Gesicht tropften. Bald schon brannten seine Augen von der ätzenden Flüssigkeit und entzündeten sich. Ständig arbeitete er im Windzug, im Winter in Kälte und Nässe, im Sommer in einer unerträglichen Hitze. Ob ihm das Werk gelingen würde, wusste er nicht. Was um ihn herum vorging, sah er nicht. Vollkommen im Rausch der Arbeit malte er zwölf, vierzehn Stunden am Tag und aß nur nebenbei und unregelmäßig. Wenn er abends erschöpft ins Bett fiel und sogleich einschlief, wurde er von Träumen gepeinigt, die seine Motive – Gott, die Erschaffung Adams, die Ahnen Christi und die Sibyllen – in grotesker Weise verzerrten. Manchmal drohte er im Traum irrezuwerden, doch dann erschien ihm wie durch ein Wunder Contessina und lächelte seine düsteren Visionen fort. Zuweilen jedoch sah er in den nächtlichen Trugbildern auch Giacomo vor sich, die Lippen zum Kuss gespitzt, mit geschminkten Wangen und frivolem Blick, in der aufreizenden Körperhaltung, die einst sein trunkener Bacchus eingenommen hatte. Dann bekam er eine Erektion, erwachte und schämte sich dafür. Nach solchen Träumen malte er am nächsten Tag besonders lange, als wolle er sich für seine sündigen Gedanken kasteien.

Ein andermal ähnelte Giacomo dem Adam, den Michelangelo gerade an die Decke der Kapelle bannte. Entspannt lag er in der wüsten leeren Welt und streckte seine Hand Gott entgegen, ein Liebender, ein Wartender, hoffend und zugleich seiner selbst sicher. Aber Gott säumte nicht. Der Allmächtige schien nicht frei zu sein in seinem Schöpfungswerk, denn in seiner betörenden Schönheit erzwang Adam geradezu Gottes Tat. Mit den Engeln, umgeben von Leben, gestützt auf eine seraphische Erscheinung, kam der Schöpfer und berührte Adams Zeigefinger mit dem seinen, um ihn dadurch zum Leben zu erwecken, ihm göttliche Energie zu verleihen, wie man das Leben auch nennen konnte.

Gott erschuf. Doch so, wie Michelangelo Adam gemalt hatte, erzwang dieser zugleich die Schöpfung. Beide, der Allmächtige und der Mensch, erzählten in ihrer Bewegung zueinander von einer Liebe, die in der Berührung ihren Höhepunkt fand. Erschüttert blickte Michelangelo auf das, was er gemalt hatte, während ihm das Kalkwasser auf das Gesicht und in die Augen tropfte. Es konnte kein Zufall sein: Gott stützte sich bei seinem Werk auf eine Engelsgestalt mit blondem Haar. Die großen skeptischen Augen, die Michelangelo porträtiert hatte, kannte er, er kannte sie gut, es waren Contessinas Augen. Gott war ein Künstler, der durch einen Fingerzeig alles zum Leben erweckte.

Was der Maler in seiner Einsamkeit erschuf, war nicht weniger als das Evangelium nach Michelangelo, denn am Anfang standen weder das Wort noch die Tat, sondern die Geste. Das Leben war eine Geste Gottes. Michelangelo konnte nicht wissen, dass zur gleichen Zeit ein Augustinermönch aus dem deutschen Wittenberg nach Rom gekommen war, um Ablass zu erringen, und nun, in die Heimat zurückgekehrt, ähnliche Fragen stellte wie er und die gleiche Antwort fand. Nur nannte der Augustiner den Grund des Lebens nicht eine Geste Gottes, sondern die Gnade Gottes. Gottes Gnade, die sich in der Geste ausdrückte, belebte die Welt und erschuf den Menschen.

Die große Allegorie des Lebens, die Michelangelo Glied für Glied, Körper für Körper an die Wände brachte, rang er Gott ab. Zuweilen beschlich ihn das Gefühl, dass er statt in Worten und in Versen in Körpern und in Farben ein Kompendium des Daseins schuf, wie es Dante in seiner »Göttlichen Komödie« geglückt war. Allmählich wurde ihm bewusst, dass es dieses Werk war, dessentwegen er auf die Liebe verzichtet hatte. Und je klarer er das begriff, umso verbissener und leidenschaftlicher arbeitete er. Bei allen Leiden, bei allem Sichschinden war er Gott, wie er in der Sixtinischen Kapelle die Welt erschuf.

Umgang pflegte Michelangelo in dieser Zeit nur mit den Geschöpfen seiner Kunst. Selbst Francesco nahm er kaum noch wahr. So rang er mit der Einsamkeit und mit Gott, während Raffael in der Stanza della Segnatura mit größter Fröhlichkeit die »Disputa del Sacramento« malte und Bramantes Vierungspfeiler für die neue Peterskirche zusehends wie vier mächtige Arme in den Himmel griffen, als wollten sie gleich das Firmament stützen. Bei all der Feindschaft und Konkurrenz, die zwischen den Künstlern herrschte, musste Julius doch den Eindruck gewinnen, als entstünde um ihn herum tatsächlich das neue Jerusalem.

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Rom, Anno Domini 1510

Fernab von der Herrschaft der Künstler und der Schlachten, die sie unter mehr oder weniger großem Getöse mit Farben und Steinen schlugen und dabei immer mehr das Leben ihrer Schöpferkraft untertan machten als die eigentlichen Herren der Ewigen Stadt, begann der Kardinal Catalano, zur Gegenwehr zu rüsten. Er hatte eine herbe Niederlage erlitten. Der Papst empfing ihn seit seiner Entgleisung nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Es glich schon einem Wunder, dass Julius ihm nicht die Erzpriesterschaft von Sankt Peter entzogen und sie stattdessen dem Freigeist Francesco Alidosi verliehen hatte. Giacomo war klug genug, sich ruhig zu verhalten und nicht gegen Bramante zu opponieren, um den Papst nicht zu reizen.

Der Kardinal hoffte, dass die Zeit für ihn arbeiten würde. Die Archiconfraternita musste sich verändern, wieder schlagkräftig werden. Seit die Memoria des Apostelfürsten unter freiem Himmel inmitten der Ruinen stand und es dort von Bauleuten und allem möglichen Gesindel nur so wimmelte, verbot sich jede Zusammenkunft an diesem Ort. Giacomo hatte seine Brüder an einem anderen, sicheren Ort zusammengerufen.

Die Stadt lag wohlig unter der warmen, dunklen Glocke der Nacht. Sterne leuchteten vom Himmel, und es roch nach verbranntem Gras und wildem Anis. Hin und wieder hörte man den Gesang torkelnder, betrunkener Menschen und das hohe Kreischen von Frauen. Giacomo trug eine schwarze Samthose und darüber ein Lederwams in der gleichen Farbe. Ein dunkles Barett bedeckte sein Haupt. Er wollte nicht auffallen, deshalb hatte er auf das Dominikanerhabit verzichtet. Mit schnellen Schritten passierte er das Pantheon und hielt auf den Eingang des Dominikanerklosters zu, das neben der Kirche Santa Maria sopra Minerva lag. Unter dem Schutz seines Ordens befanden sie sich in sicherer Diskretion.

Die Männer wollten sich in einem Saal neben der Bibliothek versammeln. Mit Trauer dachte Giacomo an die zusammengeschmolzene Schar. Die Archiconfraternita zählte nicht mehr zwölf Mitglieder, wie man es nach der Zahl der Apostel festgelegt hatte, sondern nur noch vier – den Prediger Prieras, die Kardinäle Oliviero Carafa und Alessandro Farnese sowie Giacomo selbst. Nacheinander betraten sie mit Kapuzen über dem Kopf den Saal, auf dessen großem, rundem Tisch zwei Kandelaber mit Kerzen standen und den Raum erhellten. Nach einem gemeinsamen Gebet legten die Brüder ihre Kapuzen ab und setzten sich um den Tisch.