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Iwan Turgenjev

Die lebendige Reliquie

Land der Dulder und der Demut,

Meine Heimat, Russenerde!

F. Tjutschew

Ein französisches Sprichwort lautet: »Der trockene Fischer und der nasse Jäger bieten einen traurigen Anblick.« Da ich für die Fischerei niemals etwas übrig gehabt habe, vermag ich nicht darüber zu urteilen, was ein Fischer bei gutem, heiterem Wetter empfindet und inwiefern das Vergnügen, das ihm eine reiche Beute bei Regenwetter verschafft, die Unannehmlichkeit, naß zu sein, aufwiegt. Für den Jäger ist aber das Regenwetter ein wahres Unglück. Und von eben diesem Unglück wurden wir, ich und Jermolai, betroffen, als wir wieder einmal in den Bjelewschen Kreis zur Birkhahnjagd kamen. – Vom frühen Morgen an wollte der Regen nicht aufhören. Was hatten wir nicht alles versucht, um uns vor ihm zu retten! Wir zogen unsere Gummimäntel fast über den Kopf und stellten uns unter Bäume, damit es auf uns weniger gieße... Die wasserdichten Mäntel ließen aber, ganz abgesehen davon, daß sie uns beim Schießen hinderlich waren, das Wasser auf die schamloseste Weise durch; und wenn wir uns unter einen Baum stellten, so schien der Regen anfangs wirklich nicht durchzudringen, mit der Zeit aber hielt das Laub der sich ansammelnden Masse nicht mehr stand, jeder Zweig überschüttete uns mit Wasser wie aus einer Regentraufe, und die kalten Ströme drangen uns hinter den Kragen und liefen die Wirbelsäule hinab... Das war aber schon zu gemein! – wie sich Jermolai ausdrückte.

»Nein, Pjotr Petrowitsch,« rief er schließlich aus, »so geht es nicht!... heute kann man nicht jagen. Das Wasser läuft den Hunden in die Nasen; die Gewehre versagen... Pfui! So ein Pech!«

»Was ist zu machen?« fragte ich.

»Das will ich Ihnen sagen. – Wir fahren nach Alexejewka. Vielleicht kennen Sie es – es ist so ein Vorwerk – es gehört Ihrer Frau Mutter; es sind an die acht Werst von hier. Wir übernachten dort, und morgen...«

»Kehren wir wieder hierher zurück?«

»Nein, nicht hierher... Die Gegend hinter Alexejewka ist mir bekannt... die Birkhahnjagd ist dort viel besser als hier...«

Ich unterließ es, meinen treuen Gefährten zu fragen, warum er mich nicht gleich dorthin gebracht hatte, und am gleichen Tage erreichten wir das Vorwerk meiner Mutter, von dessen Existenz ich, offen gestanden, bisher keine Ahnung hatte. Auf diesem Vorwerke fand sich ein baufälliges, aber unbewohntes und darum reinliches Häuschen, in dem ich eine recht ruhige Nacht verbrachte.

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh. Die Sonne war erst eben aufgegangen; am Himmel war kein Wölkchen zu sehen; alles ringsum strahlte im starken, doppelten Glanze: im Glanze der jungen Morgenstrahlen und in dem des gestrigen Gusses. – Während man mir das Wägelchen anspannte, irrte ich durch den nicht sehr großen Garten, der einst ein Obstgarten gewesen war und jetzt, verwildert, das Häuschen von allen Seiten mit seinem duftenden, saftigen Dickicht umgab. Ach, wie schön war es da in der freien Luft, unter dem heiteren Himmel, in dem die Lerchen schwirrten, deren heller Gesang wie silberne Perlen niederregnete! Auf ihren Flügeln trugen sie gewiß die Tautropfen fort, und ihre Lieder schienen von Tau benetzt. Ich nahm mir sogar die Mütze ab und atmete freudig, aus voller Brust... Am Rande einer nicht sehr tiefen Schlucht, dicht neben dem Zaune, erblickte ich einen Bienengarten; ein schmaler Pfahl führte hin, sich zwischen zwei dichten Mauern von Steppengras und Brennesseln schlängelnd, über denen die spitzen Stengel des dunkelgrünen Hanfes ragten, der Gott weiß wie hingeraten war.

Ich schlug diesen Pfad ein und erreichte den Bienengarten. Neben diesem befand sich ein kleiner Schuppen aus Flechtwerk, wie er zum Einstellen der Bienenkörbe für den Winter dient. Ich blickte in die halb geöffnete Tür hinein: es war darin dunkel, still, trocken; es roch nach Minze und Melissen. In einer Ecke war eine Pritsche angebracht, und auf dieser lag unter einer Bettdecke eine kleine Gestalt... Ich wollte schon weitergehen...

»Herr, Sie, Herr! Pjotr Petrowitsch!« rief eine Stimme, schwach, langsam und tonlos wie das Rascheln von Riedgras im Sumpf.

Ich blieb stehen.

»Pjotr Petrowitsch! Kommen Sie bitte her!« wiederholte die Stimme. Sie kam aus der Ecke, von der Pritsche, die ich bemerkt hatte.

Ich kam näher – und erstarrte vor Verwunderung. Vor mir lag ein lebendiges menschliches Wesen; aber was war denn das?

Der Kopf war vollkommen ausgetrocknet, einfarbig, bronzen, genau wie auf einer alten Ikone; die Nase schmal wie die Schneide eines Messers; die Lippen fast unsichtbar; ich konnte nur die weiß schimmernden Zähne erkennen, die Augen und einige dünne Strähnen gelblicher Haare, die unter dem Kopftuche auf die Stirn fielen. Auf einer Falte der Bettdecke neben dem Kinn bewegten sich langsam zwei winzige, gleichfalls bronzene Hände mit spindeldürren Fingern. Ich sehe genauer hin: das Gesicht ist nicht nur nicht abstoßend, es ist sogar schön, doch schrecklich und ungewöhnlich. Und dieses Gesicht erscheint mir um so schrecklicher, als ich sehe, daß sich ein Lächeln vergebens bemüht, sich darauf auf den metallenen Wangen auszubreiten.

»Sie erkennen mich nicht, Herr?« flüsterte wieder die Stimme; sie verdampfte gleichsam auf den sich kaum bewegenden Lippen. »Wie sollten Sie mich auch erkennen! – Ich bin Lukerja... Erinnern Sie sich noch, dieselbe, die bei Ihrer Frau Mutter zu Spaßkoje den Reigen anzuführen pflegte... erinnern Sie sich noch, ich war immer die Vorsängerin im Chor?«

»Lukerja!« rief ich aus. »Bist du es? Ist es möglich?«

»Ja, ich bin es, Herr. Ich bin Lukerja.«

Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte, und sah bestürzt auf dieses dunkle, unbewegliche Gesicht mit den auf mich gerichteten hellen und leblosen Augen. Ist es denn möglich? Diese Mumie ist Lukerja, das schönste Mädchen in unserem Hausgesinde, die große, volle, weiße, rotwangige Lukerja, die immer lachende Tänzerin und Sängerin! Lukerja, die kluge Lukerja, der alle jungen Dorfburschen den Hof machten und die ich als sechzehnjähriger Junge auch selbst heimlich anschmachtete!

»Lukerja, sag, was ist denn mit dir geschehen?« fragte ich sie endlich.

»So ein Unglück ist über mich gekommen! Verschmähen Sie mich nicht, Herr, verachten Sie mich nicht in meinem Unglück, setzen Sie sich hier auf das Fäßchen, näher zu mir, sonst werden Sie mich nicht verstehen können... Sie hören doch, was ich jetzt für eine helle Stimme habe!... Wie froh bin ich, daß ich Sie wiedersehe! Wie sind Sie aber nach Alexejewk geraten?«

Lukerja sprach sehr leise und schwach, aber ohne Unterbrechungen.

»Der Jäger Jermolai hat mich hergeführt. Erzähl mir aber...«

»Ich soll Ihnen von meinem Unglück erzählen? Gerne, Herr. – Es geschah vor langer Zeit, vor sechs oder sieben Jahren. Ich war damals soeben mit Wassilij Poljakow verlobt – Sie wissen doch, es war ein so schöner Bursche mit einem Lockenkopf, diente bei Ihrer Frau Mutter als Buffetaufseher... Sie waren aber damals gar nicht auf dem Gute, Sie studierten in Moskau. – Wir waren beide sehr verliebt; er wollte mir nicht aus dem Kopfe; es war aber im Frühling. Eines Nachts... es war schon beim Morgengrauen... lag ich schlaflos da; so süß sang eine Nachtigall im Garten!... Ich hielt es nicht länger aus, stand auf und ging auf die Treppe hinaus, um zu horchen. Die Nachtigall schmettert und trillert... und plötzlich ist es mir, als ob mich jemand mit Waßjas Stimme ganz leise riefe: ›Luscha!...‹ Ich schau hin, gleite wohl in meiner Verschlafenheit auf einer Stufe aus, stürze in die Tiefe – und falle auf die Erde! Ich hatte mich wohl nicht allzusehr angeschlagen, denn ich stand bald auf und ging in meine Kammer. Aber in meinem Innern, in den Eingeweiden ist gleichsam etwas gerissen... Erlauben Sie, daß ich Atem hole... nur ein Weilchen... Herr.«