»Jeder scheint mir hier genau dieselben Fragen zu stellen, mit denen mich Medalont und all meine anderen Ärzte schon so oft traktiert haben, und ich kann immer nur dieselben Antworten geben«, beklagte er sich. »Wenn ich könnte, wäre ich ja gerne behilflich, aber wie? Keiner von Ihnen beantwortet meine Fragen, und niemand sagt mir, wie mein gegenwärtigerZustand ist. Was glauben Sie denn nun eigentlich, was mir fehlt? Und warum verrät mir niemand, was dagegen unternommen werden soll?«
Die Pathologin drehte sich gemächlich auf dem bequemen Sessel zu Hewlitt herum und wandte nur widerwillig den Blick von dem großen Monitor ab, auf dem seit geraumer Zeit eine Folge unbewegter Bilder gezeigt wurde, die den Oberflächen von rosa- und lilafarben geäderten Marmorplatten ähnelten. Wie Hewlitt vermutete, handelte es sich dabei um erkrankte Gewebeteile fremder Spezies, und vielleicht war Murchison davon ausgegangen, die Bilder könnten ihn derart langweilen, daß er sofort einschlafen würde.
Die Pathologin stieß einen langen Seufzer aus, bevor sie antwortete: »Eigentlich sollten Sie erst morgen nach der Landung während der Lagebesprechung darüber informiert werden. Da sich aber in den letzten drei Tagen nichts an Ihrem allgemeinen Gesundheitszustand geändert hat, sehe ich keinen triftigen Grund, es Ihnen bis dahin zu verschweigen. Also das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Ihnen bestimmt nicht gefallen, weil…«
»Haben… haben Sie etwa schlechte Nachrichten für mich?« unterbrach Hewlitt sie. »Dann fangen Sie bitte gleich mit den schlechtesten an.«
»Wenn Sie Antworten auf Ihre Fragen haben möchten, dann unterbrechen Sie mich bitte nicht. Das Ganze ist nämlich etwas peinlichfür mich.«
Peinlich? dachte Hewlitt entsetzt und sagte dann laut: »Entschuldigen Sie.«
»Es sind weder gute noch schlechte Nachrichten, es gibt nämlich gar keine. Zuerst haben wir Ihnen die hinlänglich bekannten Fragen gestellt, in der Hoffnung, daß Sie uns etwas Neues sagen würden; etwas, das sie versäumt haben, Medalont oder den anderen zu erzählen; etwas, das wir Ihnen hätten glauben und worauf wir hätten reagieren können. Laut Prilicla läßt Ihre emotionale Ausstrahlung erkennen, daß sie nicht lügen, zumindest nicht bewußt, und dennoch sind die zumindest subjektiv als wahr empfundenen Geschichten, die Sie uns erzählen, überhaupt nicht hilfreich füruns. Nun zu Ihrer zweiten Frage, nämlich zu der, was Ihnen fehlt. Nun, soweit wir es herausfinden konnten, ist Ihr Zustand nicht nur gut, sondern Sie sind auch ein ungewöhnlich körperlich wie geistig fites und gesundes männliches Exemplar der Gattung DBDG-Terrestrier. Ihnen fehlt also überhaupt nichts.«
Sie atmete tief ein, wodurch ihre eindrucksvolle Brust in dem enganliegenden weißen Overall voll zur Geltung kam, und was Hewlitt zudem daran erinnerte, daß er immerhin ein Mann war. Dann fuhr sie fort: »Deshalb müßten wir uns eigentlich der Meinung der Ärzte anschließen, von denen Sie in der Vergangenheit behandelt worden sind, und Ihnen mitteilen, daß Sie ein gesunder Hypochonder mit psychischen Problemen sind und daß Sie nach Hause gehen und endlich damit aufhören sollen, unsere kostbare Zeit zu vergeuden… «
Bevor Hewlitt etwas dazu sagen konnte, hielt Murchison besänftigend ihre wohlgeformten Hände hoch und sagte rasch: »Sie brauchen sich erst gar nicht aufzuregen, denn genau das werden wir nicht tun. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht für Ihre ungewöhnlichen Kindheitserlebnisse und die Regeneration von Morredeths beschädigtem Fell eine einleuchtende Erklärung gefunden haben. Sollte es nämlich diesbezüglich tatsächlich einen Zusammenhang geben, dann hoffen wir, Beweise dafür auf Etla zu finden. Das ist doch der Ort, an dem diese eigenartigen Vorfälle angefangen haben, und wo wir während unserer Nachforschungen Ihre Mithilfe sowie Ratschläge und Erinnerungen sehr zu schätzen wissen werden.
Also lautet die Antwort auf Ihre dritte Frage: Wir wissen nicht, was wir mit Ihnen machen sollen«, beendete die Pathologin ihre Ausführungen mit einem Lächeln.
»Ich würde Ihnen ja gern behilflich sein, aber höchstwahrscheinlich sind meine Kindheitserinnerungen für Ihre Absichten nicht genau genug. Haben Sie daran auch schon mal gedacht?«
»Nach Aussage der psychologischen Abteilung ist Ihr Erinnerungsvermögen wie alles andere an Ihnen: nämlich nahezu perfekt. Würden Sie jetzt also bitte schlafen und mich weiter arbeiten lassen, PatientHewlitt?«
»Zumindest werde ich es versuchen«, antwortete Hewlitt. »Was machen Sie da eigentlich?«
Murchison seufzte erneut. »Unter anderem vergleiche ich gerade eine Reihe vergrößerter Scannerbilder von Gehirnen der DBDGs und anderer Spezies, inklusive des Ihren übrigens, weil ich eine strukturelle Veränderung oder Anomalie zu finden hoffe. Auf diese Weise ließe sich vielleicht erklären, wie es Ihnen möglich war, einige dieser wundersamen Dinge zu bewirken – falls Sie überhaupt etwas damit zu tun gehabt haben und nicht eine andere, uns bislang verborgen gebliebene Kraft. Ich erwarte wirklich nicht, Beweise für eine Gabe zu finden, die ihrem Besitzer ermöglicht, Wunder zu vollbringen. Trotzdem darf ich nichts unversucht lassen. Und jetzt schlafen Sie bitte.«
Doch nur wenige Minuten später fragte sie: »Sind Sie sich wirklich sicher, daß Sie uns alles erzählt haben? Oder gab es noch irgendwelche andere Begebenheiten, die Ihnen als Kind oder Erwachsener widerfahren sind und die Ihnen als viel zu belanglos erschienen sind, um sie zu erwähnen D wie zum Beispiel die Geschichte mit Ihren Zähnen? Sind Sie zu Hause oder in Ihrem Arbeitsumfeld mit kranken Leuten in Kontakt gekommen? Aus irgendeinem Grund enthält Ihre Krankenakte überhaupt keine Angaben über Ihren Beruf oder über ein Gewerbe, dem Sie nachgehen. Sind Sie mit Tieren in Berührung gekommen – ich meine, abgesehen von Ihrer Katze -, die vielleicht krank oder erst kurz zuvor von einer Krankheit genesen waren? Oder gab es irgendwelche anderen Tiere, die mit Ihnen… «
»Meinen Sie vielleicht meine Schafe?« unterbrach Hewlitt die Pathologin.
»Kann sein, ich habe keine Ahnung. Erzählen Sie mir davon«, forderte Murchison ihn auf.
»Nun, ich habe eine ganze Menge Schafe.«
»Ach, sind Sie etwa ein Schafhirte?« erkundigte sich die Pathologin erstaunt. »Ich hätte nie gedacht, daß es heutzutage noch Schafhirten gibt. Erzählen Sie weiter.«»Ich bin zwar selbst kein Schafhirte, aber die gibt es immer noch«, stellte Hewlitt klar. »Schafehüten ist eine seltene, stark spezialisierte und zu dem sehr gut bezahlte Arbeit, besonders wenn man für mich arbeitet. Ich habe das Familienunternehmen von meinen Großeltern geerbt, da mein Vater ihr einziges Kind war. Als er bei dem Flugzeugunglück ums Leben kam, war ich somit der einzige Nachkomme. Mein Beruf ist in der Krankenakte nicht erwähnt worden, weil auf der Erde ohnehin fast jeder weiß, wer ich bin oder was ich tue. Mann kennt mich dort unter dem Namen ›Hewlitt der Schneider‹.«
»Ich fürchte, ich müßte jetzt beeindruckt sein«, reagierte Murchison auf ihre typisch unterkühlte Weise. »Aber Sie müssen schon entschuldigen, denn ich wurde nicht auf der Erde geboren.«
»Da dies bei weit über neunzig Prozent der Föderationsmitglieder der Fall ist, bin ich auch keineswegs beleidigt«, stellte Hewlitt klar. »Jedenfalls handelt es sich dabei um eine relativ kleine, aber sehr exklusive Firma, die den Mond und die Erde mit handgearbeiteten, maßgeschneiderten Kleidungsstücken sowie mit handgewebtem oder gesponnenem Tweed und edlen Kammgarnmaterialien beliefert. In der heutigen Zeit billiger Synthetikstoffe gibt es immer mehr Leute, die bereit sind und über das nötige Geld verfügen, unsere Preise zu bezahlen. Einige versuchen sogar, durch Bestechungsgelder auf unsere Warteliste zu gelangen. Aber trotz der schwindelerregenden Preise, die wir berechnen, ist die Gewinnspanne nicht einmal besonders hoch. Wir müssen Schaf- und andere Wolltierherden unterhalten, die als gesetzlich geschützte Arten gelten. Die Tiere müssen regelmäßig geschoren werden, damit wir unseren Rohstoff für die Webereien bekommen. Sie glauben ja gar nicht, welch enorme Kosten der hohe Haltungsstandard und die Gesundheitspflege unserer Tiere verursachen.