Ailyn wischte die Klinge des Zwergenschwerts an der Wolfsfellweste sauber, dann stieg sie die Außentreppe zum Keller hinab. Sie ging nicht davon aus, dass die Menschenkinder sie in Frieden lassen würden.
Der Verdacht
»Sie ist eine zierliche Frau in schneeweißem Kleid. Wenn sie kämpft, sieht es aus, als würde sie tanzen. Aber sie lässt einen Pfad voller Leichen hinter sich.« Dicke Schweißperlen standen auf der Stirn des Steppenreiters, der vor Artax auf einem improvisierten Lager ruhte. Er war totenbleich. Artax’ Leibwache hatte ihn an einer Hauswand aufgespießt gefunden.
Artax drückte ihm die Hand. »Ich danke dir für deinen Bericht, Saumakos. Du bist ein tapferer Mann. Die meisten laufen davon, wenn sie ganz allein einer Schwertdaimonin gegenüberstehen.«
»Ein guter Mann hätte dieses Weib aufgespießt«, fluchte Madyas, der neben ihm stand.
»Nein!« Artax erhob sich aus der Hocke und sah den Unsterblichen ärgerlich an. »Ich bin solchen Schwertdaimonen schon zuvor begegnet. In einer Kristallhöhle im Dschungel, einige Tagesreisen westlich der Goldenen Stadt. Wir hatten sie in die Enge getrieben. Es war genau wie hier. Zwei Weiber und ein Mann. Sie saßen gefangen. Wir waren mehr als zehn zu eins überlegen. Aber das hat sie überhaupt nicht beeindruckt. Sie sind aus der Höhle ausgebrochen, und wir waren nicht mehr als Ähren unter der Sichel des Schnitters. Deine Tochter Shaya war bei diesem Kampf zugegen. Hat sie dir nie davon erzählt?«
»Shaya war keine Aufschneiderin, die mit ihren Heldentaten prahlte. Hätte sie das getan, hätte sie nie mehr aufgehört zu reden, so viel hätte sie zu erzählen gehabt.« Madyas strich sich in Gedanken über die tiefschwarzen Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Was schlägst du vor? Wir haben viele tausend Krieger aus allen sieben Königreichen versammelt. Wollen wir vor einer einzigen Daimonin kapitulieren?«
Artax trat zur Tür des kleinen Hauses, in das der Verwundete gebracht worden war. Sehnsüchtig sah er noch einmal auf das wärmende Feuer, das im kleinen Kamin brannte. Außer der wohligen Wärme gab es keinen Grund, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Er wurde draußen gebraucht. Die Nächte hier im ewigen Eis waren unheimlich. Es war besser, wenn seine Männer ihn sahen und er den Verzagten mit ein paar aufmunternden Worten Mut machte.
Müde hob er an: »Wer spricht von kapitulieren, Madyas? Wir warten auf das Licht des Morgens, damit unsere Bogenschützen gute Sicht haben. Wenn es so weit ist, werden wir das Haus einreißen und seine Wände in den Keller hinabstürzen lassen. Und wenn die Daimonen dann wimmernd aus dem Eingang gekrochen kommen, dann erwarten jeden von ihnen hundert Pfeile, so wie den Drachen, den dein Sohn erlegt hat. Das war eine große Tat, Madyas. Ich gestehe freimütig, dass Subai mich mit seinem Heldenmut überrascht hat. Den toten Drachen zu sehen hat die Moral unserer Männer mehr gefestigt als der allzu blutige Sieg am Fluss.«
Artax öffnete die schwere Tür. Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Es kostete ihn Überwindung, über die Schwelle zu treten. Er war nicht für dieses Schneeland geschaffen und sehnte sich stündlich mehr nach den warmen Ebenen Arams.
Ormu erwartete ihn vor der Tür. Der Hauptmann der Kushiten wirkte beunruhigt. Artax sah sich um. Er entdeckte mehrere vertraute Gestalten im Schatten der Häuser. »Was ist los? Das Heer der Sieben Reiche ist in Wanu eingezogen. Wovor willst du mich schützen? Heute wird es bestimmt keinen Mordanschlag mehr auf mich geben.«
»Dieser Drache«, flüsterte der hagere Bogenschütze ohne Umschweife und schritt neben Artax her, der in Richtung seines Quartiers am Stadtrand ging. »Mit dem stimmt etwas nicht. Ich habe ihn mir sehr genau angesehen. Die Pfeile sind allesamt nicht sehr tief in seinen Leib eingedrungen. Sie können nicht mehr als Nadelstiche für ihn gewesen sein.«
»Vielleicht war es die Masse der Pfeile«, gab Artax zu bedenken. »Könnte er nicht am Ende am Blutverlust gestorben sein?«
»Eher unwahrscheinlich. Die Ischkuzaia haben ihn aufgebrochen und feiern ein Festmahl mit seinem Fleisch. Es ist erstaunlich tief gefroren. So als hätte er mindestens einen ganzen Tag auf dem Marktplatz gelegen. Wahrscheinlich noch länger.«
Artax beschleunigte seine Schritte und sah sich argwöhnisch um, ob sie jemand belauschte. Madyas war in der Hütte bei dem verwundeten Krieger geblieben. Ihnen folgten nur die Schatten der Leibwächter. Die meisten Krieger aus dem Heer der Sieben Reiche feierten auf dem Platz bei den Ankertürmen den Sieg über den Drachen. In den Seitenstraßen war kaum jemand unterwegs. »Was du da ansprichst, ist ungeheuerlich, Ormu. Vielleicht irrst du dich. Es ist wirklich sehr kalt.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, pfiff heulend der eisige Nordwind um die Häuserecke.
»In den Bergen Garagums sind die Winter nicht weniger grausam«, beharrte der Bogenschütze. »Und da ist noch etwas, das mir zu denken gibt. Ich konnte keine Spuren eines Kampfes in der Stadt entdecken. Dieses Ungeheuer hätte mit einem einzigen Schwanzhieb kleine Häuser einebnen können. Und hätte er nicht Feuer speien müssen wie die Drachen, die Selinunt zerstört haben?«
»Er ist keine Himmelsschlange.«
Artax hatte, unmittelbar nachdem er den toten Drachen gesehen hatte, mit dem Löwenhäuptigen gesprochen. Der Devanthar hatte darauf bestanden, dass auf dem Marktplatz kein Götterdrache lag. Er behauptete, die Himmelsschlangen seien noch deutlich größer. Der Gedanke daran jagte Artax Schauer über den Rücken. Eines Tages würde er ihnen am Himmel über Nangog begegnen, wenn er seinen geflügelten Löwen ritt. Das würde der Tag seines Todes sein.
»Was werdet Ihr wegen des Drachen unternehmen?«
Artax winkte ab. »Nichts. Der Sieg ist zu wichtig. Wenn wir Subai und seine Krieger als Lügner entlarven, gewinnen wir dadurch nichts. Wir demoralisieren nur unsere Männer. Es ist besser für uns, wenn sie fest daran glauben, dass diese riesigen Ungeheuer besiegt werden können.«
Ormu sog scharf die Luft ein.
Artax konnte das Gesicht des Bogenschützen im Dunkel kaum erkennen, aber dessen ganze Körperhaltung drückte seinen Ärger aus.
»Was?«, fragte er ungehalten.
»Es ist nicht klug, unsere Krieger zu belügen. Es wird der Tag kommen, da werden wir einem weiteren dieser Drachen begegnen. Unsere Schützen werden voller Zuversicht ihre Bögen heben und ihm eine Wolke von Pfeilen entgegensenden. Und ich bin mir sicher, dieser Drache wird durch die Pfeilwolke stoßen, als wäre sie nichts als Dunst, um dann Tod und Verderben über unsere Männer zu bringen, die erst, wenn es zu spät ist, entdecken werden, dass sie völlig wehrlos sind. Sie werden sterben, weil Ihr in dieser Nacht die Lügen von Subai duldet.«
Artax ärgerte sich über die Worte des Bogenschützen. Außer vielleicht Ashot wagte es niemand, so offen zu ihm zu sprechen. »Glaubst du, es ist so einfach, ein Reich zu führen? Ich sage einfach immer die Wahrheit, und alles wird gut? Wenn ich Subai als Lügner entlarve, dann wird das Bündnis der Sieben Reiche zerbrechen. Wenn Madyas derart sein Gesicht verliert, wird er mit seinen Reitern die Allianz verlassen. Und das wäre erst der Anfang. Du weißt sehr gut, dass auch die Zapote nur auf eine Gelegenheit warten, das Bündnis zu verlassen. Wenn es so weit ist, dass wir gegen die Drachen antreten müssen, werden wir darauf vorbereitet sein. Langarm ist unmittelbar nach dem Sieg am Fluss nach Daia zurückgekehrt, um in seiner Schmiede neue Waffen für den Kampf gegen die Drachen zu fertigen. Wir brauchen mehr von den fliegenden Löwen.« Artax trat ganz nah an Ormu heran und senkte seine Stimme. »Wenn du recht hast mit deinen Verdächtigungen, dann sollten wir wissen, woran der Drache wirklich gestorben ist. Er wird ja wohl kaum aus dem Himmel gestürzt sein, weil ihn der plötzliche Schlagfluss getroffen hat. Finde heraus, was ihn umgebracht hat. Das zu wissen könnte den Krieg entscheiden.«
Ormu sah ihn zweifelnd an. »Da wird nicht mehr viel zu machen sein. Vielleicht fressen die Ischkuzaia ja den Drachen, um genau diese Spur für immer verschwinden zu lassen?«